Kapitel 34 - Spiegelbild

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Wir haben die Menschen für unsere Zwecke benutzt. Uns an ihnen gelabt wie an Rindern, ihr Blut geleckt und ihr Fleisch als das unsere genommen.

Es ist daher nur logisch, dass sie, ihrer Natur als rachsüchtigen Individuen entsprechend, nach einer Gelegenheit lechzen, unsere Macht zu erlangen.

Und Aura ist willig, sie ihnen zu geben. Es scheint mir, ich muss sie vor ihrer eigenen Torheit bewahren. Vielleicht ist das endlich die Gelegenheit, die Narrheiten, denen sich die anderen Götter gewidmet haben, für meine Zwecke zu nutzen.

Wenn die Liebe zur Sünde wird, gebe man dem Gott der Ordnung ein Podium für die ausgleichende Gerechtigkeit - und dem Gott des Todes einen Grund, ein Leben zu nehmen.

Die Regeln des Spiels sind so banal wie genial.

- Ruban, zweiter Psalm
  

Dunagar tauchte die Schreibfeder ein weiteres Mal in das Tintenfässchen, ließ sie kleine Kreise ziehen und strich die überschüssige Flüssigkeit sorgsam ab, bevor er sie wieder auf das Papier setzte.

Der Bericht, den er verfasste, war für ihn völlig unbedeutend. Wie so viele vor ihm handelte er von der Optimierung ihrer Kosten. Zahlen. Ein Thema, dem sich die Hämomanten viel zu intensiv widmeten.

Bei manchen Dingen sollte ihre Bedeutung nicht daran gemessen werden, wie viel oder wie wenig Aufwand sie verursachen, wähnte er. Dennoch schrieb er die Worte fein säuberlich auf das Blatt, bis die Tinte versagte, und er die Feder erneut in das Fässchen tauchte. Tagein, tagaus.

Es klopfte. Die Wachen an der Tür erwachten aus ihrer Lethargie und lugten zu dem Richter hinüber. Ohne aufzusehen, gab er ihnen einen Wink, sodass sie den Ankömmling hereinließen.

Dunagar brauchte nicht den Kopf zu heben, um zu wissen, wer da eintrat, denn er selbst war derjenige gewesen, der den Mann zu sich bestellt hatte – mitsamt der weiblichen Begleitung, die er brachte.

"Justikar Dunagar", drang die Stimme des Schwarzen Schnitters an sein Ohr. "Ihr wolltet mich sprechen?"

Sein Tonfall hatte etwas Rohes und zugleich Beruhigendes - ähnlich den zugefrorenen Seen Norstoeds mit ihren stillen, aber dunklen, unerforschten Gewässern, nach denen die schneebedeckten Tannen griffen.

Wie immer stand ihm die silberne Wölfin zur Seite – eine Angewohnheit, die viele seiner Gruppierung pflegten - und doch schien es beinahe so, als bräuchte er diesen Beistand, um dem Richter entgegenzutreten.

"Meister Marmont." Dunagar legte sorgfältig die Feder beiseite, damit sie nicht das Papier berührte, und erhob sich aus seinem Sessel. "Wie ich sehe, habt Ihr getan, worum ich Euch bat. Tretet vor."

Der Justikar deutete auf das von Spiegeln umrahmte Podium. Selbstsicher trat der Schnitter vor, während er eine kleine, zerbrechlich wirkende Gestalt mit sich führte. Ihre feuerroten Haare und das Smaragdgrün ihrer vor Angst geweiteten Augen leuchteten farbenfroh in dem sonst so schmucklosen Gerichtssaal.

Wie alt sie wohl ist?, wunderte er sich. Die leichten Kurven, die sich unter ihrer Kleidung abzeichneten, deuteten darauf hin, dass sie kein Kind mehr war, aber ebenso keine vollwertige Frau.

Als ihr Blick seiner Obsidianmaske begegnete, spürte er förmlich die Gabe, die zum Greifen nah hinter ihren Augen schlummerte - als öffneten sich zwei Portale in eine fremde Dimension. Nur wusste er noch nicht, wohin sie führen würden.

"Ich habe Euren Bericht erhalten", begann Dunagar und trat hinter seinem Schreibtisch hervor. "Und ich muss sagen, ich hätte mir keine bessere Unterstützung wünschen können. Ihr habt sehr gute Arbeit geleistet. Schließlich wart Ihr derjenige, der diesen Bandenanführer erpresst hat, damit er uns die Mörderin - und noch dazu eine Anhängerin der Sonne – ausliefert."

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