Kapitel 18

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Es war noch nicht lange her, da hatte sich Jungkook vorgestellt, Taehyung in seinem Zimmer zu haben. Nun war es tatsächlich die Wirklichkeit und es war ein ganz eigenartiges Gefühl—so neu und aufregend und absolut fremd.

Taehyung nahm seine Brille ab und schüttelte einmal kräftig den Kopf—tausende kleine Tropfen flogen herum und einige landeten in Jungkooks Gesicht.

Jungkook runzelte die Nase.

„Ich fasse es nicht, dass du hierher gerannt bist", murmelte er, denn da war noch immer dieses pulsierende Gefühl in seinem Inneren, das nicht akzeptieren wollte, dass Taehyung bei diesem Wetter draußen herumgelaufen war. „Du hättest mir auch schreiben können und wir hätten es verschoben."

Taehyung zuckte bloß mit den Schultern und legte seine Brille auf den völlig vollgeräumten Schreibtisch, an dem Jungkook noch vor einigen Minuten gesessen und geschmollt hatte, weil Taehyung nicht da war. 

Nur war er aber da.

Oh Gott.

Jungkook schmunzelte, als er Taehyung nochmal anblickte. „Du tropfst."

Er erntete einen scharfen Blick. Die zwei Decken hatte er bereits auf Jungkooks Bett platziert.

Jungkook kicherte nur, dann ging er zu seinem Schrank und holte ein paar Sachen von ihm raus. Wenn seine Hände dabei etwas zitterten, ließ er es sich nicht anmerken und vergrub sie nur tiefer in den Stoff. Er kramte eine alte Jogginghose hervor und einen grauen Pullover.

„Ich weiß, das ist nicht gerade elegant für deinen Geschmack, aber es sollte dir passen. Du bist nicht unbedingt größer als ich, aber irgendwie... breiter. Es könnte also etwas eng werden", murmelte er.

Jungkook warf einen Blick über die Schulter. Taehyung rieb sich die Hände und blickte sich im Zimmer um—Jungkook war sich nicht einmal sicher, ob er ihn gehört hatte.

Taehyung starrte mit einem undefinierbaren Blick auf die vielen Videospiele und dann auf die Bilder neben Jungkooks Bett. Die ganze Wand war voll.

Auf allen Bildern waren Jungkooks Freunde drauf: Namjoon und er, als sie ein Eis aßen und ihr gesamter Mund vollgekleckert war. Jin und er, als sie im Zoo waren und den Pinguinen nachgeahmt hatten. Yoongi, Jimin und er, als sie betrunken (das einzig und letzte mal) auf einem Tisch tanzten, während Namjoon im Hintergrund mit offenem Mund döste. Hoseok und er, als sie versucht hatten zu backen, aber der Teig überall landete, nur nicht in der Backform... es gab so viele Momente, die aufgenommen wurden und jeder Moment hatte einen ganz besonderen Platz in Jungkooks Herzen. 

Auf einem Bild war Jungkooks gesamte Familie abgebildet. Sein Vater hatte einen Arm um ihn geschlungen und trug ein breites Grinsen im Gesicht, seine Mutter hatte ihm ein Kuss auf die Wange gedrückt und Jungkook hatte vermutlich das breiteste Lächeln von allen aufgesetzt.

Taehyung fixierte dieses Bild am längsten.

„Hier", sagte Jungkook laut genug und Taehyung zuckte zusammen. Er drehte sich um und nahm dankend die Sachen aus Jungkooks Hände.

Dann hob Taehyung den Kopf und sah Jungkook direkt in die Augen.

Jungkook blickte zurück. Sein Puls beschleunigte sich so schnell wie kleine Vogelflügel—gefangen zwischen seine Lungen.

Taehyung neigte den Kopf.

„Was?", fragte Jungkook leise.

Taehyung kniff die Augen zusammen und zeigte auf die Klamotten.

„Was—oh." Jungkook wurde rot. „Oh. Du kannst—ehm. Ich—Ich zeige dir das Bad."

Jungkook zeigte ihm also schnell das Bad und während Taehyung sich umzog, putzte Jungkook seine Brille—er hatte vermutlich noch nie etwas so genau und sorgfältig geputzt wie dieses Objekt. Es gehörte immerhin Taehyung.

Als Taehyung zurückkam und Jungkook ihn in seinen Klamotten sah, setzten alle Funktionen in seinem Hirn aus—sein Mund wurde trocken und sein Atem stockte. Er musste sich zurückhalten, nicht nach Luft zu japsen. Er sah so normal aus, aber trotzdem so gut. Besser als gut. Viel besser.

„Deine Brille", presste er dann so locker wie möglich hinaus. Taehyung nahm sie vorsichtig entgegen und setzte sie auf. Er blinzelte ein paar Mal und bevor er reagieren konnte, kam auch schon Jungkooks Mutter durch die Tür gerast—ohne anzuklopfen—und Jungkooks Herz sprang ihm beinahe aus der Brust.

„Hier, meine Jungs", sagte sie und balancierte ein Tablet voll mit Kakao und endlosen Snacks wie Nüssen, Chips und Salzstangen auf einem Arm. „Damit ihr nicht verdurstet oder verhungert. Keiner geht hier mit leerem Bauch nach Hause."

Jungkook konnte kaum Luft holen, als sie schon weiterredete: „Bist du eigentlich Jungkooks Nachhilfe? Ja? Oh, Gott sei Dank. Wir waren schon so verzweifelt, ich war kurz davor die Nerven zu schmeißen. Mein kleiner Jungkookie—" Sie kniff ihm in die Wange und auf Jungkooks Gesicht breitete sich purer Horros aus. „—hat eine Matheschwäche und egal, was wir tun, es wird einfach nicht besser. Dabei bemüht er sich so!"

„Mama—"

„Ich dachte, Namjoon und er würden das irgendwie hinkriegen, aber das hat sich dann auch erledigt. Sein Vater und ich haben es ebenfalls probiert, aber wir beide haben absolut keine Ahnung von dem Mathestoff heutzutage und wenn ich ehrlich bin, hat er die Matheschwäche vermutlich von mir geerbt, aber als Ausgleich hat er die Größe seines Vaters! Nicht, dass man das irgendwie vergleichen kann, aber ich mein' ja nur!"

Sie stellte das Tablet ab und tätschelte Jungkooks Kopf. „Hast du Hunger?"

„Nein", lächelte er.

„Du hast nie Hunger. Du bist viel zu dünn, iss' doch etwas", meinte sie nur und Jungkook blickte zu Boden. „Taehyung! Du hast noch gar nichts gesagt, hast du Hunger? Ich weiß, ich rede viel zu viel, aber ich bin so glücklich, dass Jungkook jemanden gefunden hat, der ihm hilft!"

Taehyung öffnete den Mund, dann stoppte er. Er zog nur eine Grimasse und schüttelte den Kopf.

„Nein, du hast keinen Hunger oder nein, ich rede nicht zu viel?", fragte sie und wartete.

Doch es kam keine Antwort.

„Möchtest du lieber etwas anderes, Taehyung? Wasser? Saft? Tee? Oder vielleicht doch Kekse? Obst? Oh—wir haben frische Erdbeeren, möchtest du die?"

Es vergingen Sekunden, in denen keiner sprach, Sekunden, in den Jungkook hoffte, das Taehyung doch zu reden begann.

Er würde enttäuscht.

„Mama, ich glaube, wir haben alles", sagte Jungkook leise und deutete ihr unauffällig rauszugehen, doch sie hörte nicht auf ihn, sondern blickte weiterhin zu Taehyung, dessen Gesichtsausdruck immer trüber wurde.

Plötzlich gestikulierte sie etwas mit den Händen.

„Was machst du da?", fragte Jungkook überrascht.

Es sah lustig, aber irgendwie auch faszinierend aus, wie schnell sie ihre Finger und Hände bewegte und wie flüssig die Bewegungen waren. Jungkook kam kaum mit dem Blick hinterher.

„Was...", dann stoppte er.

Taehyung zog scharf die Luft ein—

Dann machte er die gleichen Bewegungen.

Und Jungkook verstand.

Etwas in ihm erwärmte sich.

Und gleichzeitig kam eine unendliche Traurigkeit auf—denn warum hatte er kein einziges Mal daran gedacht?

Seine Mutter und Taehyung unterhielten sich gerade in Gebärdensprache.

____

Kann man sich schon irgendwie vorstellen oder denken, warum Tae nicht spricht? Ist jemanden irgendwas aufgefallen?

In den nächsten Kapiteln kommen wahrscheinlich mehr Hinweise, Taehyung bekommt auch ein eigenes Kapitel und ich kann nur sagen, dass es purer Schmerz wird haha (das poste ich aber erst wenn es passt, zurzeit finde ich, passt es noch nicht)

Es wird jetzt auch bisschen länger nichts mehr kommen, da ich noch einige Sachen für die Uni abschließen muss, ich hoffe, ihr versteht das! ❤️

Danke fürs Lesen!! <33

All The Words You Never Said [VKOOK]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt