Eine Menge Arbeit I

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Am nächsten Morgen war Ben ungewöhnlich früh wach. Ungeduldig wartete er darauf, dass seine Mutter ihn endlich aus dem Bett holen würde. Es nervte ihn extrem, dass er jetzt nicht einfach wie Rey aufspringen konnte, um so früh wie nur möglich mit der Arbeit zu beginnen. Oder vielleicht ein paar Seiten in seinem Physikbuch zu lesen.
Nach ein paar Minuten schloss er gelangweilt die Augen. Wahrscheinlich war es erst um vier Uhr morgens. Da würde ihn so schnell keiner holen.
Ben musste noch einmal kurz eingedöst sein, denn als er das nächste Mal die Augen öffnete, hörte er es in der Küche verdächtig klappern.
"Mum?"
Kurz darauf öffnete sich seine Tür, aber Rey stand darin.
"Morgen Ben, soll ich deine Mutter holen? Ich glaube sie schläft noch." Sie schenkte ihm ein niedliches Lächeln.
"Oh, nein. Lass sie ruhig schlafen. Wie spät ist es?"
"Es ist um sechs", antwortete Rey.
Jetzt wurde Ben so einiges klar. Natürlich würde seine Mutter nicht um so eine Uhrzeit aufstehen, nur um ihn fertigzumachen. Das hieß, dass er sich noch mindestens eine Stunde den Hintern wundliegen musste.
Doch Rey musste sein entnervtes Stöhnen bemerkt haben, denn sie trat nun in sein Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
"Kann ich das nicht auch?", wollte sie wissen. Ben antwortete sofort. Den Reflex des Schulterzuckens konnte er so lange schon nicht mehr ausüben, sodass er auch nicht mehr als erstes von seinem Gehirn ausgesendet wurde.
"Weiß ich nicht. Hast du das schon mal irgendwo gemacht? Wenn nicht, dann glaube ich nämlich nicht daran."
"Mein Opa leitet ein Pflegeheim in Stuttgart, dort habe ich als Teenager nach der Schule öfters ausgeholfen. Ich werde dich schon irgendwie in diesen Stuhl bekommen, füttern ist auch kein Problem und waschen kann dich deine Mutter auch heute Abend."

Ben war froh, dass es so dunkel im Raum war. Sonst hätte Rey wahrscheinlich gesehen, dass er rot anlief. Die Vorstellung, dass ihn waschen sollte, konnte sein Gehirn nicht so richtig verarbeiten. Es schob es eher in die völlig falsche Ebene. Beziehungsebene.
So würde das garantiert nichts werden.
"Ja, klar, das reicht völlig. Bis wir fertig gegessen haben, ist meine Mutter sicher auch wach", rettete er sich schnell. Rey erwiderte das Nicken ebenfalls sichtlich erleichtert. Dann schaltete sie das Licht und Ben musste reflexartig geblendet die Augen schließen.
Rey schob den Rollstuhl bis an sein Bett, dann ließ sie sich neben ihn fallen. Sie kraulte ihn scherzhaft am Kinn.
"Komm aufstehen, Benni. Es ist Zeit für die Schule", witzelte sie weiter.
"Nenn mich nie wieder Benni", maulte er. "Versprochen, Benni."
"Du bist unmöglich", stöhnte Ben.

Rey packte ihn relativ geübt und hievte ihn in seinen Rollstuhl. Natürlich hatte sie ihm vorher die Halskrause umgelegt. Ben war ziemlich schwer, musste sie feststellen. Rey konnte sie Größe von Menschen, die ihm Rollstuhl saßen, schon immer schlecht einschätzen. Bei Ben war sie sich sicher, dass er einige Zentimeter größer als sie sein musste. Viel konnte es aber nicht sein, immerhin war Leia sehr klein. Da müsste sein Vater ein Riese gewesen sein.
Die Art wie Rey ihn festhielt, war für Ben etwas komisch, auch wenn er die eigentlichen Berührungen nicht wahrnahm. Er merkte, dass sie mit seinem Gewicht kämpfte. Allerdings war das kein Wunder. Ben fragte sich immer wieder, wie seine Mutter das in ihrem Alter schaffte.

Beim Frühstücken merkte Rey, dass Ben auch nur ein ganz normaler Mann seiner Altersgruppe war. Es war erstaunlich, wie viel er innerhalb kurzer Zeit verdrücken konnte. Schmunzelnd stellte sie fest, dass Ben tatsächlich eher ein süßer Typ war. Die beiden Nutellabrötchen, die sie ihm schnell schmierte, verschlang er hungrig.
"Isst du alles, was süß ist?" Rey musste ihm diese Frage einfach stellen.
"Nicht wirklich. Ein deftiges Wurstbrot am frühen Morgen tut es bei mir auch, aber ich bin da nicht wählerisch. Liegt wahrscheinlich daran, dass mir irgendwie bewusst geworden ist, dass ich ohne Hilfe auf der Stelle verhungert wäre. Aber wenn ich die Wahl habe, dann kommt Schokolade immer an erster Stelle."
Jetzt musste Rey wirklich laut lachen. Es war einfach zu komisch, dass der mürrische Mann vor ihr ein Schokoladenmonster war. Und Schokolade soll angeblich glücklich machen... Doch dann fiel ihr wieder auf, wie gut die Farbe von Schokolade zu seinen dunklen braunen Augen passte.
"Ich brauche noch meine Tabletten", erinnerte sich Ben plötzlich.
"Was nimmst du denn?" erkundigte sich Rey.
"Nur etwas gegen zu heftigen Muskelabbau und ein paar Vitamine, damit mein Immunsystem besser gestärkt ist."
Rey brachte ihm die Tabletten und verabreichte sie ihm mit ein paar Schlucken Wasser, genau wie er es ihr beschrieb.
"Vitamin D? Warum gehst du nicht mehr an die frische Luft und sammelst ein paar Pigmente? Du bist so blass."
"Ich würde ja gerne, aber meine Mutter lässt mich nur ungerne lange nach draußen. Wenn es zu kalt ist, dann fast nie. Manchmal saß ich ganze Winter nur hier drinnen. Sie will mich vor Erkältungen und anderen Infekten schützen. Selbst der kleinste Schnupfen kann gefährlich für mich werden." Ben wirkte traurig, er schien zu wissen, wovon er sprach.
"Das kann ich mir kaum vorstellen. Du kannst dich doch nur nicht bewegen."
"Das ist genau das Problem. Meine ganze Muskulatur ist gelähmt, somit habe ich kaum bis gar keine Unterstützung beim Atmen. Meine Lungen müssen alles aus eigener Kraft stemmen. Mit einem fetten Husten wird das normale Gewebe überlastet, weil die Hilfsmuskulatur fehlt. Vor vier Jahren haben meine Kumpels mich zu Silvester mit der Grippe angesteckt. Ich lag letztendlich zwei Wochen vollbeatmet im Krankenhaus." Er atmete einmal tief durch.
"Ich habe zum Glück keine langfristigen Schäden davongetragen. Seitdem bekomme ich jedes Jahr meine Grippeschutzimpfung und Besuch darf ich während der Grippewellen nur wenig empfangen. Sie müssen sich alle absolut gesund fühlen, kein Husten, kein Schnupfen. Ich habe ja sowieso niemanden, aber so sind die Regeln meiner Mutter."

Rey sah ihn perplex an. Intensivstation wegen einer Grippe mit gerade einmal 26 Jahren, das sagte alles über Bens Zustand aus. Die OPs würden absolut ohne Komplikationen verlaufen müssen, damit Ben danach eine Chance zum Überleben hatte. Er war innerlich ein Kämpfer, das spürte sie. In ihren Gesprächen ließ er manchmal sein altes Ich durchblicken. Diese Persönlichkeit gefiel ihr.

Schnell verdrängten sie die erschütternden Erinnerungen und schmiedeten einen Tagesplan. Nebenbei schlürften sie die Reste ihres Kaffees.
Bereits völlig vertieft in ihre Arbeit, erschraken sie, als Leia sie plötzlich ansprach.
"Na ihr seid ja fleißig." Mit einem gütigen Lächeln im Gesicht schlurfte die ältere Dame müde zum Wasserkocher. Dann drehte sie sich ruckartig um und blickte Ben ungläubig an.
"Wie bist du denn aus dem Bett gekommen?"
"Rey hat mir geholfen, sie hat schon ein bisschen Erfahrung an Senioren gesammelt."

Leia zog Ben schnell um und machte ihn im Bad fertig, damit er mit Rey endlich mit arbeiten anfangen konnte. Sie begann bereits, Rey sehr in ihr Herz zu schließen. Das Mädchen hatte eindeutig guten Einfluss auf ihren Sohn. So offen und motiviert hatte Leia ihren Jungen schon lange nicht mehr erlebt. Außerdem war sie nicht blind. Die Art wie Beide dem direkten Blickkontakt auswichen, gab ihr sehr genaue Hinweise. Ja, entschied Leia. Ein bisschen Liebe würde ihrem Sohn nicht schaden.

Im Keller brüteten Rey und Ben seit etwa zwei Stunden über dem groben 3D-Entwurf seiner neuen Wirbelsäule. In der Theorie sah alles verhältnismäßig einfach aus, nur die Praxis hatte es wirklich in sich.
"Die künstlichen Nervenanschlüsse habe ich entwickelt, bevor ich dieses Projekt überhaupt gestartet habe. Ohne die haben wir nämlich gar keine Chance", erklärte Rey. "Sie verbinden deine Nerven mit deinem Gehirn und ersetzten und unterstützen die zerstörten Zellen. Zusätzlich müssen wir wie bei jedem Implantat einfach hoffen, dass dein Körper es annimmt und nicht abstößt. Da wir zum Großteil anorganische Verbindungen nutzen werden, sollte das das geringste Problem darstellen."
Ben nickte zustimmend. Seine Kenntnisse von Nervenzellen und Biologie waren mehr schlecht als recht. Er war überglücklich gewesen, als er das Fach zur Oberstufe endlich abwählen konnte. Physik, Chemie, Mathe und Informatik waren schon eher seine Gebiete, daran hatte sich bis heute nichts geändert.
"Okay, wir müssen die neue Wirbelsäule möglichst stabil entwerfen. Das oberste Teil ist schon extrem wichtig. Wenn wir den Masseschwerpunkt meines Kopfes falsch berechnen, dann können wir auch gleich einen schönen Spruch für mein Grab aussuchen. Die Physik lässt sich nicht austricksen. In den den einzelnen Wirbeln würde ich zusätzlich zu den den kreisförmigen Strukturen auch noch dreieckige Stützen integrieren. Dadurch verteilen sich die wirkenden Kräfte besser. Und das Material spielt eine große Rolle. Dass eine Cyborg-Wirbelsäule weniger wiegt als die meine orginale, können wir beim Prototyp gleich vergessen. Wir können uns nur möglichst an diesem Wert orientieren. Zu schwer darf sie auf jeden Fall nicht sein. Ich muss dieses Eigengewicht nämlich auch mit in die Rechnungen einbeziehen. Deshalb brauchen wir eine grobe Orientierung, was der Stoff wiegt."
"Hättest du eine Idee, was wir sinnvoll gebrauchen könnten?" Rey sah ihn fragend an. Ben runzelte die Stirn und dachte angestrengt nach. Dann erhellte sich sein Gesichtsausdruck.
"Wir könnten Titan nutzen, wäre zwar extrem teuer, aber es würde definitv funktionieren. Titan ist bekannt für seine große Stabilität und sein geringes Eigengewicht. Das wäre perfekt für die einzelnen Wirbelkörper, für die Bandscheiben müssen wir uns sowieso etwas anderes suchen."
"Ben, du bist genial. Aber woher weißt du das?" Rey wollte ein wenig mehr über Ben erfahren. Zum Beispiel, wie er sich Wissen aneignete.
"Ich habe immerhin einen Bachelor in Physik. Dazu gehört auch ein wenig Elementenkunde und spezifische Eigenschaften von Metallen. Titan kenne ich aber hauptsächlich aus meiner Fliegerkarriere. Die richtig guten Flugzeuge hatten manchmal Teile aus Titan. Nahezu unzerstörbar, aber leicht, damit das Flugzeug weniger Ballast bewegen musste", grinste Ben. Der Gedanke an die Stunden, die er damit verbracht hatte, die Silencer - alles Prototypen - zu verbessern. Oftmals hatte er bis spät in die Nacht Navigationsprogramme getestet, die Motorleistung durch Bauveränderungen hochgefahren. Seine Mutter hatte zwar immer geschimpft, wenn er mit Motoröl beschmiert spät in der Nacht ins Haus schlich. Trotzdem waren das mit die besten Zeiten seines Lebens gewesen. Nicht, dass die Schule nebenbei leicht gewesen war, aber die Fliegerei war sein Ausgleich. Im Cockpit war er frei!

Rey lächelte ihn glücklich an, machte einige Notizen und holte einen Block aus dem Beistellschrank an der langen Werkbank.
"Los gehts!"

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