So hatte im Prinzip Annas Ära zuhause geendet, denn nur kurze Zeit später war Julia in ihrem Zimmer erschienen und hatte verlangt, dass seine Freundin sich entschuldigte.
Zum ersten Mal hatte Anna sich geweigert. Er wäre stolz auf sie gewesen, wenn er nicht so fassungslos darüber gewesen wäre, dass Julia erneut zu ihrem Mann hielt und sich die Wahrheit ihrer Tochter nicht einmal anhören wollte. Stattdessen hatte Annas Mutter versucht, sie zu überreden, aber seine Freundin hatte sich nicht erweichen lassen.
Also war Julia umgeschwenkt und hatte vorgeschlagen, dass Anna ja zu ihm ziehen könne. Er hatte bemerkt, wie Annas Blick ihn gestreift hatte, und er hatte nur zugestimmt. Er hatte sie gerne bei sich. Doch er hatte den leisen Verdacht, dass seine Freundin das Gefühl hatte, als wäre sie an ihn abgeschoben worden. Sie nannte sich selbst Dauergast. Sie sagte nie, dass sie nach Hause fuhren. Sie erklärte, sie gingen zu ihm. Das war ein kleiner Unterschied, der jedoch deutlich machte, dass sie nicht das Gefühl hatte, bei ihm daheim zu sein.
Als er in dieser Nacht wachgeworden war, hatte er erstmals damit Bekanntschaft gemacht, wie es war, wenn Anna sich nicht mehr kontrollieren konnte. Er hatte sie erwischt, als sie wie in Trance aß. Sie war dabei nicht ansprechbar gewesen. Erst als ihre Hände ins Leere gefasst hatten, war ihr offenbar klargeworden, was sie getan hatte.
Ab da hatte sie ihn auch bewusst wahrgenommen. Sofort war sie zusammengebrochen vor Scham und er hatte mit ihr gelitten, weil sie so verzweifelt darüber gewesen war, keinen Platz mehr in der Familie zu haben, für die sie so viel ertragen hatte. Still und betroffen hatte er sie damals auf seinen Schoß gezogen und sie gehalten, bis sie wieder Luft bekommen hatte und die Tränen versiegt waren.
‚Aber ich hatte keine Ahnung, dass sie sich in der ganzen Zeit nicht bei Anna gemeldet haben. Kein Wunder, dass sie heute so aus dem Tritt gekommen ist, wo alle anderen von ihren Eltern beglückwünscht worden sind', dachte er und fragte sich, ob ihr Vater wirklich genauso ignorant war.
‚Ich würde ihn gerne kennenlernen', erkannte er noch und schlief ebenfalls ein.
*
Er war ziemlich aufgeregt. Er hatte Anna tatsächlich überreden können, ihren Vater zu besuchen. Und ihre Oma. Bei der sie übernachten würden. Weil ihr Pa nur eine Zwei-Zimmer-Wohnung hatte. Er war noch nie in Landshut gewesen. Die niederbayrische Landeshauptstadt, woher Anna stammte und die ersten knapp 13 Jahre ihres Lebens verbracht hatte, ehe sie nach Rothenburg ob der Tauber gezogen waren, bis sie fast 15 gewesen war. In Regensburg war sie dann in seine Klasse gekommen. Aber heute lernte er ihren Geburtsort kennen.
Sie war erst nicht begeistert von seinem Vorschlag gewesen, als sie am Morgen vom Klingeln seines Telefons am See wachgeworden waren. Nachdem er seiner besorgten Mutter erklärt hatte, dass sie unbeabsichtigt eingeschlafen waren, hatte er erneut Annas bekümmerten Gesichtsausdruck bemerkt und ihr vorgeschlagen, sie könnten ihre Landshuter Familie besuchen. Sie hatte ihn erst angestarrt, als hätte er vier Köpfe. Also drei mindestens.
Doch dann hatte sie mit den Schultern gezuckt und gemeint, wäre vielleicht eine Idee. In diesem Moment lenkte Anna ihren Wagen durch den Landshuter Verkehr. Es war Stau. Na ja, für einen Freitagmittag war das nicht ungewöhnlich. Aber seine Freundin wirkte aufgeregt. Ob sie sich freute oder eher nicht so? Er konnte es nicht sagen. Die Fahrt über hatten sie hauptsächlich geschwiegen.
„Machst du dir Sorgen, ob sie dich mögen?", fragte sie plötzlich und sein Blick flirrte zu ihr.
„Hm. Ja, klar. Immerhin bin ich der Kerl, mit dem du Tisch und Bett teilst, wie man so schön sagt. Hast du ihnen überhaupt mal von mir erzählt? Du hast nicht so viel Kontakt zu deiner Landshuter Familie, oder? Scheiße, sie wissen doch von mir, richtig? Oder überrascht du sie nach dem Motto: ‚Hey, guckt mal, das ist mein Freund, mit dem ich lebe und nach Stuttgart gehe, damit er sich seinen Traum erfüllen kann'? Sag, dass sie von mir wissen...", bat er jetzt fürchterlich nervös und bemerkte, wie um ihre Lippen ein amüsiertes Lächeln zuckte.
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Mein Name ist Anna!
Teen FictionDas Leben der übergewichtigen Anna hat sich drastisch verändert, seit sie mit ihrem Freund Florian zusammen ist: endlich hat sie das Gefühl, mehr zu sein, als ihre Hülle. So blickt sie positiv in ihre Zukunft. Immerhin: Das Abi ist geschafft und es...