48 - Windgleich

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‚Anna, meine Anna, wie schön du strahlst', schrie es in ihm, als sie betreten und schüchtern auf der freien Fläche der Bühne stand.

Mit geschlossenen Augen sang sie davon, dass sie Fliegen lernen würde, ohne Flügel zu haben. Doch die hatte sie. Gerade jetzt wuchs sie über sich hinaus, ohne sich dessen bewusst zu sein. Genau in diesem Moment flog sie all den schrecklichen Erlebnissen davon, die sie so quälten. Er konnte es sehen. Weil plötzlich ein leichtes Lächeln an ihren Mundwinkeln zog und sich ihre Körpersprache veränderte. Automatisch begann sie, sich aufzurichten, und ihre Stimme wurde kräftiger. Selbstbewusster. Lauter. So frei wie noch nie. Reflexartig schossen ihm Tränen in die Augen, er musste jedoch grinsen, als er hörte, wie Jonah neben ihm sagte, er würde Anna heiraten.

Dann zuckte dessen Blick zu ihm, Laris Sohn schürzte die Lippen und meinte: „Ok, du heiratest sie. Aber sie bleibt mein Schatz."

„Gebongt", erwiderte er schmunzelnd und wurde wieder nervös.

Bis hierher war alles gutgegangen. Jetzt musste sie nur noch die sechs Leute verkraften, die vermutlich schon warteten. Zwei davon kannte sie immerhin, die dürften kein Problem darstellen. Die Restlichen waren umgängliche Menschen, die er kennengelernt hatte und die wenig bis keine Vorurteile hatten. Er hoffte, das klappte. Sie musste sich zeigen können. Feststellen, dass sie jemand war. Und keinen Grund hatte, sich weiterhin hinter einer Wolkenwand zu verstecken.

‚Ok, es ist so weit', dachte er, als der Song endete und Massimo die ersten Takte von The Look von Roxette anstimmte, während er auf Anna zutrat.

Das fungierte hier als Zeichen für den nächsten Schritt. Er hatte stundenlang mit den anderen eine sogenannte Setlist erarbeitet. Songs, die seine Freundin mitrissen und dazu bewegten, laut mitzusingen und loszulassen. Bisher klappte es. Er sah ihr Lächeln, als Massimo einsetzte. Er fing Larissas Nicken auf und ließ Jonah los, um das Rolltor zu öffnen und die restlichen Gäste des Events einzulassen, während Annas Stimme durch die kleine Industriehalle drang. Doch als er dieses aufstieß, schluckte er.

***

Sie hatte echt schon lange nicht mehr solchen Spaß gehabt. Sie würde der Band beitreten. Einfach, um sich so fühlen zu können wie gerade eben. Aufgefangen in einer Einheit, die hinter ihr stand und sie mochte, wie sie war. Bei der sie sich keine Gedanken machen musste, was diese über sie dachten. Weil sie für diese ok war. Sie bemerkte, wie ihr Körper sich begann zu bewegen, anhand des Taktes und dem Drive des Liedes und ließ es zu, während sie ihre Parts sang, mit dem Rücken zu Massimos Familie. Doch die scherten sich nicht darum und sie fand es ok. Heute war es ok. Keiner würde sie dafür verurteilen, dass jemand wie sie tanzte. Als der Song endete und riesiger Applaus und Grölen aufbrandete, riss sie die Augen auf und wirbelte herum, ehe sie schlagartig blass wurde.

Da waren bestimmt 20 Leute und alle starrten sie an. Wie sie sang und sich auf der Bühne bewegte. Ihr Herz klopfte so heftig, sie würde es jeden Moment auskotzen. Doch sie hatte keine Zeit, großartig zu überlegen. Denn Massimo trat auf sie zu und flüsterte ihr den nächsten Titel zu: Dressed for success der gleichen Band. Automatisch schüttelte sie den Kopf, doch dann sah sie die leise Hoffnung in seinem Blick, aber auch sein Mitgefühl. Sie ließ die Augen zufallen und stimmte den Song an. Dafür, dass sie ihr immer wieder den Rücken stärkten. Da konnte sie ihre Freunde jetzt nicht hängenlassen.

Außerdem kannte sie die Lieder dieser Band aus dem FF. Als Kind hatte sie diese geliebt. So sehr, dass bei jeder Autofahrt mit ihrem Vater genau die aus dem Radio getönt waren. Weil ihr Papa sie für sie einlegte. Sie musste nicht mal nachdenken. Einfach nur singen. Und ausblenden, dass da so viele Menschen waren, die ihr zusahen und zuhörten. Aber Massimo unterstützte sie mit seiner Stimme, indem er sich zu dem Mikro beugte, dass sie automatisch wieder in die Halterung vor sich gesteckt hatte. So schaffte sie es, sich erneut ein Stück weit von der Musik gefangen nehmen zu lassen.

Mein Name ist Anna!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt