trois

39 12 0
                                    

Wenn die Nacht anbricht und die Seine zu später Stunde sanft durch die Pariser Gassen fließt, wenn die Straßenkatzen ihre Lieder anstimmen und die Markfrauen ihre Stände schließen, öffnet die Garnier-Oper ihre glänzenden Eingangspforten.
Venez, entrez - Kommt mit, tretet ein.

Sobald die Dunkelheit sich drückend über die Straßen legt, strömen die Menschen zu tausenden über eine große zeremonielle Treppe aus weißem Stein und einer Balustrade aus rotem und grünem Marmor über die großen Fassadenflügel ins Innere der Palais.

Sie kommen auf Pferden oder in Kutschen, mit Stöcken oder zu Fuß, allein oder in Paaren und treten hinein das Interieur der Oper, reich an Samt, Blattgold, Cherubim und Nymphen, bis in das Grand Foyer, wo sie sich sammeln und sich in heiter-gespanntem Geflüster über die neusten Geschehnisse austauschen.

Durch den Vorhang der Bühne erspähen wir, wie die Besucher nach und nach aus dem Grand Foyer in das Auditorium quellen, mit Augen rund geöffnet und starren Blicken - Diebe, so nennen wir sie, mit hungrigem Geist und leeren Köpfen.

Schaudernd trete ich zurück hinter den Vorhang und mein Herz pocht unangenehm laut in meinen Ohren, als Gaïa mich besorgt mustert. Zwischen ihren Schulterblättern bündelt sich das diffuse Licht der Scheinwerfer auf ihrer rostroten Haut.

Die Luft ist stickig, verbraucht vom Atem der vielen Menschen und Tänzerinnen, die zunehmend aus dem Foyer de la Danse treten, wo sie eben noch Bewegungsabfolgen geübt und sich aufgewärmt hatten. Hinter dem Vorhang warten sie, schlagen die Augen auf oder verkneifen sich ein herzhaftes Gähnen, rücken ihre kurzen Ballettkleider und seidenen Mieder zurecht oder können vor Aufregung nicht stillstehen. Viele von ihnen sind kaum vierzehn, doch unter dem Puder, den bemalten Lippen und den Hochsteckfrisuren wirken sie viel älter.

Bald strömen sie nacheinander durch den schweren Vorhang hinaus auf die Bühne, wo sie sich augenblicklich verteilen und ihren Tanz beginnen - eine eine Fata Morgana fast, voller himmlischer Verlorener.

Schlagartig verstummt die wispernde Menge und Rhythmen füllen pulsierend den Raum, Kleider bauschen in die Höhe wie zarte Schwanenfedern und Glieder recken sich hinauf zur Decke, an der einnehmend ein großer Kronleuchter hinabhängt.
L'ostentation est le deuxième art de la danse. Prunk ist die zweite Kunst des Tanzes.

Bald sind alle Tänzerinnen durch den Vorhang verschwunden und auch ich trete auf die Bühne. Meine Gestalt wirft keinen Schatten, als ich zugleich zu tanzen beginne - meine Haut verändere und meine Knochen und Gelenke spanne und verbiege, während ich mit meinem Tanz Geschichten über Beständigkeit erzähle.

Mit leeren, gespaltenen Herzen zeigen wir, dass wir eins sind mit uns selbst und dem Ballett und werden für ein paar Stunden jemand anderes, als entschlüpften wir für eine Weile unseren vor Anstrengung schmerzenden Körpern, die sich eigenmächtig immer mehr in den Kadenzen verlieren. Wir sind das Corps de Ballet.

Es ist ein langer Abend und mein Ballettkleid schneidet mir in seiner Enge in die Hüften und Schultern. Ich kneife die Zähne zusammen und versuche, das Brennen auszublenden, das sich in meiner Stirn ausbreitet. Kopfschmerzen sind nur alte Erinnerungen, die gegenseitig um die Vorherrschaft deiner Gedanken kämpfen, sagte Gaïa immer.

Als die Vorstellung vorbei ist, glitzern kristallene Tränen auf Madame Guineveres Wangen und bilden Schlieren auf der Puderschicht unter ihren Augen.
»C'est merveilleux! C'était comme si des ailes d'aigle avaient poussé à mes pigeons d'ivoire«, beteuert sie ausdrücklich und drückt jeder von uns einen Kuss auf die Stirn, der einen schmierig-roten Abdruck hinterlässt.
Wunderbar! Es war, als wären meinen Elfenbeintauben Adlerflügel gewachsen.

petits ratsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt