Liam

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Als wir den Waffenladen verließen, hatte es bereits zu dämmern begonnen. Als erstes führte Liam mich zu dem Markt, den ich mir bereits angeschaut hatte.

"Hier verkaufen wir eigentlich alles Mögliche. Von altem Schmuck bis hin zu irgendwelchen Lebensmitteln. Natürlich gibt es auch einen Bäcker...", erklärte er.

Ich konnte ihm gar nicht richtig zuhören. Es konnte doch nicht sein Ernst sein, mir jetzt zu erzählen, was auf dem Merkt betrieben wurde, als ob ich gerade neu hier her gezogen wäre. Wieso erklärte er mir nicht einfach, was hier los war?

"Liam?"

"Ja?"

"Was ist das hier... Alles. Ich komme mir vor, als wäre..."

"Als wärst du in ein neues Leben reingeplatzt. Ich weiß. Na gut, fangen wir einfach von vorne an. Wie heißt du?", sagte er plötzlich und völlig unerwartet.

"Ich? Alyson."

"Gut. Also, Alyson. Hast du schon einmal etwas von dem Dorf der Rebellen gehört?"

"Nein. Also, nicht dass ich wüsste."

"Naja, also dort befindest du dich zumindest gerade. Die Ritter, also die Anhänger von Lucius, nennen es Vrængard.

Hier werden alle hingebracht, die sich gegen das Königreich gewehrt haben. Wir wissen nicht, wie wir hier her gekommen sind, noch, wie wir wieder rauskommen. Das einzige was wir wissen ist, dass es keinen Ausweg geben wird. Aber das solltest du nicht als etwas Schlimmes ansehen, Alyson. Du solltest lieber stolz sein, zu denen zu gehören, die sich getraut haben, etwas zu sagen. Etwas zu unternehmen."

"Aber wieso töten sie uns nicht einfach gleich, anstatt uns hierhin zubringen?"

"Sie wollen damit zeigen, dass sie mit uns anstellen können was sie möchten. Keiner kann dagegen etwas unternehmen, verstehst du? Lucius glaubt, dass es uns hier schlecht geht. Außerdem sind wir eine der wichtigsten Ernährungsquelle für das Königreich. Hier stellen wir für sie Waffen her, backen Brot, besorgen Fleisch und so weiter. Das ist übrigens meine Aufgabe."

"Fleisch besorgen?"

"Genau. Ich bin ein Jäger. Meine Pflicht ist es, Tiere zu jagen. In diesem Wald da."

Er zeigte auf die Grüne Wand, die uns wie immer majestätisch umgab. Sein Blick war fest und undurchdringlich. Es schien fast unmöglich, ihn zu deuten, seine Gedanken zu entziffern.

"Und was muss ich machen? Ich muss doch sicher auch arbeiten."

"Die meisten fangen beim Waffenschmieden oder auf dem Markt an. Wenn du dich gut hier auskennst, kannst du irgendwann auch Scott fragen, ob du wo anders hinkannst.

Hast du sonst noch irgendwelche Fragen?"

Ich überlegte. Eigentlich hatte ich noch hunderte Fragen. Tausende.

"Wer ist diese Frau an der Kasse im Waffenladen gewesen?"

Liam lächelte.

"Maggy. Eine tolle Frau. Sie hat mich sofort seit ich hier bin mit warmem Herzen aufgenommen. Der Laden ist ihr ein und alles. Da ich ein Jäger bin, bin ich einer ihrer Stammkunden."

Wir verließen den Markt und schlenderten zurück zu der Häuserkolonie. Die Sonne war schon fast vollkommen untergegangen und nur manche Fenster wurden vom schimmernden Kerzenlicht beleuchtet. Ab und zu warf ich kurze Blicke zu Liam. Seine Augen waren starr auf den Boden gerichtet. In ihnen konnte man nichts lesen und keine Gefühle deuten. Sie waren so undurchdringlich...

Als wir das Häuschen erreicht hatten, in dem ich von nun an wohnte, blieb ich stehen. Liam machte neben mir Halt.

"Ich sollte dann mal gehen. Meine Schwester macht sich vielleicht schon Sorgen oder so", murmelte ich.

"Deine Schwester?"

"Ja. Sie heißt Em. Wir wurden zusammen gefangen genommen."

Als hätte er mich nicht gehört, sagte Liam: "Gut. Dann bis bald."

"Bis bald. Und danke." Ich lächelte.

"Wofür?", fragte er, ohne eine Miene zu verziehen.

"Für deine Hilfe", antwortete ich verdutzt.

"Schon okay." Ohne noch ein Wort zu sagen, drehte Liam sich um ging in Richtung Wald davon.

Komischer Junge, schoss es mir durch den Kopf, während ich mich abwandte und in das kleine Holzhäuschen ging.

Em musste gehört haben, wie die Tür hinter mir ins Schloss fiel, denn als ich einen Schritt vorwärts in den Gang machen wollte, stand sie plötzlich vor mir.

"Wo warst du?" Ihre Augen waren rot und feucht. Sie hatte ihre Kleider anscheinend durchgewaschen während ich weg war, denn an manchen Stellen waren sie noch nass und der Schmutz war fast verschwunden.

"Ich habe mir das Dorf angeschaut", erklärte ich, während wir zusammen in das winzige Schlafzimmer gingen und uns auf eine Matratze setzten, die wahllos auf den Boden geschmissen wurde und an der man die Federn deutlich erkennen und spüren konnte. Em warf mir einen verzweifelten Blick zu.

"Ist alles okay?", fragte ich.

"Ob alles okay ist?! Du fragst mich ob alles okay ist? Mich interessiert es überhaupt nicht, wie dieses verdammte Dorf oder was auch immer das hier ist aussieht. Ich möchte wissen, wo genau wir hier sind, Al! Was das alles auf sich hat. Wieso wir hier sind. Wie wir her gekommen sind." Ihre Augen füllten sich mit Tränen, während sie weiter sprach. "Ich verstehe einfach nicht, wie du so gelassen sein kannst. Du... An einem Morgen werde ich von irgendwelchen Alarmsirenen geweckt, meine Mutter wirkt wie traumatisiert und redet kein Wort mit mir, meine Schwester erzählt mir, dass wir von irgendwelchen verrückten angegriffen werden, nur um anschließend mit meinem Vater gegen sie kämpfen zu wollen? Vor meinen Augen wurde eine Frau umgebracht! Vor meinen Augen hast du einen Mann ermordet.

Als wir dann die Burg erreicht haben, dachte ich, wir wären jetzt sicher...." Sie lachte bitter auf. "Doch dann wurden Mama und ich plötzlich von Rittern angegriffen, die uns wahrscheinlich schon die ganze Zeit verfolgt haben. Du, Alyson, du hast schon wieder einen Mann umgebracht, hast uns schon wieder gerettet. Ich will mich auch wehren können..." Em, meine zerbrechliche kleine Schwester, wirkte auf einmal viel älter und selbstsicherer. Sie zeigte eine Seite von sich, die ich vorher noch nie von ihr gesehen hatte. Eine Seite, die ich heute schon einmal gesehen hatte, bei der Kassiererin im Waffenladen. Und während sie weiter sprach, so mutig und stark, konnte ich kein Wort rausbringen. "Als du plötzlich ohnmächtig geschlagen wurdest und schwer blutend in irgendeinen Sack gestopft wurdest, gab es dann wirklich keinen mehr, der uns beschützte. In diesem Moment wurde mir klar, wie sehr wir uns eigentlich auf dich und Papa gestützt hatten. Und ihr wart beide nicht mehr da, um uns zu retten. Sie wollten Mama auch mitnehmen, aber das konnte ich nicht zulassen, verstehst du? Ich konnte nicht mit ansehen, wie sie meine Mutter vor meinen Augen entführten. Also habe ich versucht sie zu verteidigen und wurde stattdessen gefangen genommen... Mama ist nicht hier, verstehst du was das bedeutet? Sie wurde nicht mit gefangen genommen." Sie wurde so leise, dass ich mich anstrengen musste, um sie zu verstehen. Obwohl ich mir denken konnte, was nun kam. Am liebsten wollte ich einfach nicht hinhören, als könne ich damit irgendetwas beeinflussen. Und das konnte ich nicht. Ich konnte nichts mehr unternehmen. Ich konnte nur hier neben meiner kleinen Schwester auf einer heruntergekommenen Matte sitzen und der eiskalten, bitteren Wahrheit ins Auge blicken.

"Sie haben sie umgebracht", beendete Em ihren Satz.

The Mavericks - Zone 5Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt