Madeleine

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Am nächsten Morgen standen wir früh auf und machten uns auf den Weg zum Marktplatz, um Scott zu fragen, wo wir arbeiten sollten.

Die Nacht hatte ich kein Bisschen schlafen können. Meine Schwester hatte mir am Abend zuvor die Augen geöffnet. Wie konnte ich davor nur so locker gewesen sein? Womöglich waren meine Eltern ermordet worden, wahrscheinlich sogar mein ganzes Dorf. Und das Schlimmste war ja, dass ich die Verantwortung für alle Frauen und Kinder übernommen hatte. Diese waren jetzt auf sich alleine gestellt und vielleicht sogar nicht mehr am Leben. Und ich? Ich war hier in Sicherheit. In dieser scheiß Sicherheit. In dieser Sicherheit, die mich gleichzeitig unfähig machte. Unfähig etwas zu unternehmen.

Machtlos.

Unfähig und Machtlos.

Der Markt war trotz dieser Frühe schon rappelvoll. An den Ständen verkauften Leute Früchte, Wasser, Brot und andere Lebensmittel. Die Sonne, die erbarmungslos auf uns niederprallte, ließ den leicht angefeuchteten Boden glitzern. Es war fast unerträglich heiß. Die anderen, fast alle Jugendliche, trugen kurze Shirts und Hosen, deren Enden zerrissen waren. Passend für dieses Wetter.

Ich schaute an mir herab. Ich trug noch immer die Sachen vom Tag, an dem ich von den Sirenen geweckt wurde - ein eng anliegendes Oberteil und eine elastische schwarze Hose. Damals hatte ich sie angezogen, um darin gut kämpfen zu können. Nun kam ich mir damit ziemlich doof vor, vor allem, da ich mich fast zu Tode schwitzte.

Plötzlich entdeckte ich Scott, etwa huntert Meter entfernt. Er redete mit einem jungen Mann in seinem Alter. Auch er hatte übernatürlich viel Muskeln und schaute düster drein. Als Scott uns auf sich zukommen sah, verdüsterte sich seine Miene noch mehr. Auch bei mir sank die Sympathie für ihn rasend schnell.
"Was gibts?", Fragte er genervt, als wir vor ihm Halt machten.
"Ich wollte nur wissen, wo wir hier arbeiten können." Ich versuchte, meine Stimme möglichst ruhig klingen zu lassen.
Scott trug ein eng anliegendes T-Shirt und eine halb lange Hose. Auf seiner Stirn hatten sich feine Schweißperlen gebildet und auch seine blonden Locken glänzten in der Sonne.
Scotts blaue Augen musterten mich nicht sonderlich interessiert.
"Das hier ist Alec." Er zeigte auf den kräftigen Mann neben sich. "Alec ist verantwortlich für die Arbeiten. Er wird euch gleich weiter helfen. Aber geht vorher noch einmal bei Madeleine vorbei und besorgt euch neue Klamotten und ein wenig Essen."
"Wer ist Madeleine?", fragte Em.
"Sie ist dafür da, euch am Anfang zu helfen. Aber das werdet ihr gleich erfahren", erklärte Alec. "Aber jetzt kommt." Er schenkte Scott einen kurzen Blick und ging dann ein paar Schritte voran. Em und ich folgten ihm stumm.
Alec führte uns vom Marktplatz raus in die kleine Gasse, in der ich am vorigen Tag den Waffenladen entdeckt hatte. Einen kurzen Moment hatte ich die Hoffnung, dort arbeiten zu dürfen.
"Die meisten fangen beim Waffenschmieden an", erklärte Scott beiläufig. Meine Hoffnung schwand dahin. Also durfte ich die Waffen nur herstellen, nicht verkaufen.
"Dort werdet ihr auch starten", fuhr er fort. "Aber erstmal bringe ich euch zu Madeleine." Seine Stimme war eintönig und klang gelangweilt. Fast so schlimm wie Scott.
Wir kamen vor einer kleinen Holztür auf der Linken Seite der Gasse zu stehen, die mit Blumen verziert wurde. Sie war der einzig bunte Fleck in diesem armen Bereich.
"Die Waffenkammer ist gleich gegenüber. Sagt denen, ihr seid neu und wurdet hierher geschickt." Scott drehte sich um und trat einen Schritt von uns weg. "Ach ja", sagte er plötzlich und blieb stehen. "Kommt heute Abend noch einmal zum Marktplatz. Zieht euch etwas vernünftiges an und sagt dann besser kein Wort, es sei denn, ihr werdet aufgefordert. Da müssen wir jede Woche durch. Ist echt kein Spaß." Mit diesen Worten verschwand er und ließ uns verdutzt zurück. Em war die erste, die reagierte. Sie legte ihre Hand auf den Türgriff und drehte ihn um. Die Tür sprang geschmeidig auf.
Drinnen roch es angenehm nach Lavendel und verschiedenen Blumensorten. Der Raum wurde von Tageslicht durchflutet, welches durch die zwei großen Fenster neben der Tür hereinströmte. Überall an den Wänden waren getrocknete Blumen aufgehängt worden, die alles noch bunter machten. In der Mitte stand ein glänzender Holztisch, darum vier Ledersessel. Auf einem der Ledersessel saß eine quirlige Frau mit blond gelocktem, abstehendem Haar und trank in Gedanken vertieft ihren Kaffee. Unwillkürlich musste ich lächeln. Die Frau musste Madeleine sein. Als sie uns erblickte, sprang sie erschrocken auf und goss den gesamten Kaffee über ihre weiße Bluse. Em kicherte leise. Fluchend versuchte Madeleine, den Kaffee von ihrer Bluse zu wischen. Auch ich musste ein wenig grinsen. "Kann ich ihnen helfen?"
"Herrje, nein. Ist schon ok. Ist ja nur Kaffee.", sagte die blonde Frau und kam mit etwas verkrampftem Lächeln auf uns zu.
"Wer seid ihr denn? So jung noch und schon so rebellisch?" Lachend legte Madeleine eine Hand auf Ems Schulter und führte sie zu einem der Sessel. "Setzt euch doch bitte."
Ich ließ mich auf einen der Ledersessel fallen. Er war unerwartet weich und bequem.
"Gut" Sie musterte mich interessiert. "Als erstes werde ich euch ein paar neue Klamotten geben. Ich bin übrigens dafür da, den neuen eine kleine Starthilfe zu geben. Das heißt, ich gebe euch Antworten auf alle Fragen die ihr habt, gebe euch anfangs, wo ihr noch nicht so viel verdient habt, Nahrung und so weiter." Damit verschwand sie rasch in einem Nebenraum und man konnte nur lautes Holpern und ihr verzweifeltes Fluchen wahrnehmen.
Mann, war die tollpatschig.
Wenige Sekunden später kehrte Madeleine schwankend mit einem großen Stapel Kleidung und Paketen in den Armem wieder. Vorsichtig stellte sie alles auf dem Holztisch ab.
"In den Paketen ist Essen drin", erklärte sie schwer atmend. Ich erhob mich. "Danke für alles. Das ist wirklich sehr nett von ihnen." Madeleine schaute mich nur verdutzt an. Sie war es anscheinend nicht gewöhnt, dass man sich bei ihr bedankte.
"Ähm... Gerne? Wie heißt ihr eigentlich?"
"Ich bin Alyson und das ist Emira." Ich lächelte die etwas rundlichere Frau freundlich an.
"Und sie sind Madeleine, stimmt's?"
"Ach, nennt mich einfach Mad." Sie gluckste vergnügt auf.
Em und ich nahmen uns die Sachen vom Tisch und machten uns auf den Weg zu Tür. Ich hatte schon die Hand auf dem Türgriff, als mir noch etwas einfiel.
"Mad?"
"Ja?"
"Was ist heute Abend? Wieso ist das so wichtig? Was passiert da?"
Ihr Miene verdüsterte sich.
"Einmal die Woche kommen die Ritter von Lucius nach Vrængard, wie sie es nennen. Dort schauen sie, wie sich die Neuankömmlinge entwickelt haben, ob alle gut gearbeitet haben und holen das ab, was wir mit viel Mühe hergestellt haben. Als wären wir Sklaven.
Wenn die Ritter sehen, dass wir nicht gut gearbeitet haben, bestrafen sie diejenigen, die dafür verantwortlich waren."
"Was machen sie mit ihnen?", fragte Em, die plötzlich leichenblass geworden war.
"Sie peitschen sie aus, foltern oder töten sie. Ich würde euch raten, euch an dem Abend lieber zurück zu halten und nichts zu sagen. Es könnte sonst schlimm für uns alle ausgehen. Verstanden?" Tiefe Schatten hatten sich in Mad's Gesicht gebildet. Ich nickte eingeschüchtert.

"Verstanden."

The Mavericks - Zone 5Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt