Nacht auf der Burg

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"Du wolltest reden?", flüsterte ich. Meine Stimme begann zu zittern.
Er nickte und fuhr sich durch's Haar, welches vom schimmernden Mondlicht haselnussbraun glänzte. -Eine Geste, an die ich mich schon so gewöhnt hatte. 
"Du machst das immer wenn du aufgeregt bist, oder?" Ich deutete auf seine Haare.
Liam lachte leise auf. "Kann sein."
Dann schaute er verlegen auf den staubigen Boden des Daches, als wäre er das interessanteste was er je gesehen hatte.
So hatte ich ihn noch nie gesehen. Der starke, selbstbewusste Liam war nervös.
Sieh mal einer an.
"Also...", murmelte er. "Ich glaube es wird Zeit, dich über diesen Wald mehr aufzuklären."
Irgendwie hatte ich das Gefühl, es gab noch mehr das er mir erzählen wollte. Trotzdem gab ich ihm eine Chance.
"Okay", flüsterte ich daher und lächelte ihn ermutigend an.
Liam holte tief Luft. "Als Jäger besteht meine Aufgabe darin, Tiere zu jagen. Ein kleiner Teil davon wird für die Mavericks auf dem Markt verkauft, aber größtenteils wird das Fleisch von den Wachen eingesammelt.
Als Jäger bekommt man dadurch allerdings auch viel mit, was sonst so in diesem Wald vor sich geht."
Er deutete mit einer allumfassenden Bewegung auf die dichten Bäume, die sich unendlich weit unter uns erstreckten. Dann fuhr er fort.
"Von hier aus kann man sie ein wenig erkennen. Die Mauer. Sie umgibt unser Dorf. Seit mehreren Jahrzehnten versuchen Jäger, in die Nähe der Mauer zu kommen. Doch spätestens bei Zone 4 ist jeder von ihnen gestorben."
"Zone 4?" Ich schaute ihn fragend an.
"Der Wald ist in, so weit wir feststellen konnten, 5 Zonen aufgeteilt. Ziemlich clever von Lucius. Diese Burg hier ist die Grenze zwischen Zone 1 und Zone 2. Beim Trainieren haben wir uns nur in Zone 1 aufgehalten. Zu deiner eigenen Sicherheit. Dort gehe ich fast ausschließlich jagen. Der Wald wird von Zone zu Zone gefährlicher. Zone 1 hat Lucius für uns vorgesehen. Zum Jagen. Dort halten sich ungefährliche Tiere wie Eichhörnchen, Hasen und so weiter auf. In Zone zwei, die unmittelbar nach dieser Burg hier beginnt, gibt es etwas größere Tiere wie Wildschweine oder Hirsche.
Zone 3 hingegen dient nicht mehr zum Jagen. Hier fangen die gefährlichen Tiere wie Schlangen, Bären oder Hyänen an." Liam machte eine kurze Pause damit ich das alles sacken lassen konnte, bevor er mit neuer Kraft in der Stimme fortfuhr: "In Zone 4 leben Tiere, gegen die du keine Chance hast. Ich rede hier von genveränderten
Raubtieren. Löwen. Wölfe. Jaguars. Und Zone 5... Keiner hat sie je betreten. Doch so viel wir wissen, bedeutet sie deinen unmittelbaren Tod."
Ich schauderte bei dem Gedanken, was einen dort erwarten könnte. Die Aussage seiner Wörter traf mich mit solch einer Wucht, als würde mir jemand auf den Hinterkopf schlagen. Mir wurde leicht schwarz vor Augen. Von der Wahrheit. Von der so eindeutigen Kenntnis. Eigentlich war sie mir schon längst klar gewesen. Doch nie hatte es jemand zuvor ausgesprochen. Und jetzt hatte Liam meine Gedanken bestätigt.
Die Mauer umgab das Dorf. Sie war der einzige Ausweg. Und sie war unerreichbar.
Ich werde hier für immer bleiben.
Tränen drohten, sich einen Weg nach oben zu bahnen. Mir wurde schlecht. Ich schluckte die Galle herunter, die mir in den Hals stieg.
Ich werde hier sterben, verdammt nochmal.
Liam schien zu wissen, was in meinem Kopf vorging. Doch er sagte nichts. Starrte ernst auf die dunklen Baumkronen. Ließ seine Füße regelmäßig nach links und rechts baumeln.
Schließlich war ich es, die als erste das Wort ergriff.
"War das alles, was du mir sagen wolltest?", wisperte ich.
Und dann schaute er mich endlich an.
Einen Moment dachte ich, er würde gar nichts darauf erwidern. Das Schweigen schien sich für eine Ewigkeit hinzuziehen, bis er plötzlich den Kopf schüttelte.
"Nein.", flüsterte er, "Nein, das war es nicht."
Liam atmete tief durch. Um uns herum war plötzlich alles still. Als würden sämtliche Kreaturen dort draußen auf seine folgenden Wörter lauschen.
"Alyson. Ich weiß nicht was ich tun soll. Ich kann nicht mehr." Verzweifelt schaute er mich an. Eine einzelne Träne rollte über sein Gesicht. Mein Herz zog sich bei diesem Anblick zusammen und unwillkürlich griff ich nach seiner Hand. Sie war warm.
"Kann ich dir irgendwie helfen?" Flüsterte ich mit zitternder Stimme.
Er schüttelte den Kopf und drückte meine Hand noch fester.
"Nein. Kannst du nicht. Keiner kann das. Alyson, verdammt, ich will hier raus. Ich meine, ich liebe dieses Dorf... Mehr als du dir vorstellen kannst. Aber da draußen gibt es jemanden, dem ich helfen muss." Er brach ab und sah mir in die Augen. Ich konnte nichts sagen. Mein Mund war wie zugeschnürt.
"Deswegen habe ich dich trainiert. Ich wollte, dass du auch eine Jägerin wirst. Damit wir Hilfe bekommen. Keiner will heutzutage noch Jäger werden, da alle wissen, wie wenig Anerkennung man bekommt und wie gefährlich es ist. Wir haben seit Jahren keine Fortschritte gemacht. Aber als ich dich dann gesehen habe, Allie. Als du vor dem ganzen Dorf nach vorne getreten bist um uns zu verteidigen. Als du dafür bestraft wurdest. Da wurde mir klar, was du bist und was du gemacht hast. Du bist die Einzige seit Jahren, die so etwas wie Hoffnung empfunden hat. Die sich gewehrt hat. Du hast den Leuten gezeigt, wie man sich wehrt. Weißt du eigentlich, was du mit den Mavericks getan hast? Du hast ihnen die Hoffnung geschenkt, die ihnen all die Jahre gefehlt hat. Und deswegen wollte ich dich für uns. Denn eigentlich sind nur die Jäger diejenigen, die uns hier rausbringen können..."
Ich schluckte und mein Blick huschte auf meine Knie. Ich bin eine Hoffnungsträgerin. Ein Widerstandskämpfer.
"Du willst den Ausgang finden, stimmt's?", fragte ich mit stärkerer Stimme als erwartet, "In der Mauer... Es muss einen Ausgang geben. Sonst würden die Wachen nicht herein kommen."
Er nickte und starrte mit festem Blick in die Dunkelheit. "Auch, wenn ich dieses Dorf mehr als alles andere liebe, muss ich hier raus. Ich will wieder richtig leben. Und..."
"Und du willst jemandem helfen, richtig?", schlussfolgerte ich.
Er nickte wieder. Auf einmal kam ich mir ihm so verbunden vor, als würden wir uns schon seit Jahren kennen. Keiner von uns sagte etwas. Die Zeit schien in diesem Moment so langsam zu Vergehen, dass es mir wie eine Ewigkeit vorkam, in der wir einfach nur schweigend nebeneinander saßen und die frische Waldluft genossen.
Irgendwann seufzte Liam leise und drehte sich zu mir um. "Wir sollten die Nacht hier bleiben. Es ist schon zu spät, um nach Hause zu gehen, die Sonne geht bald auf und jemand könnte dich sehen."
"Aber morgen wird es noch voller sein. Wenn mich dann jemand sieht, wie ich aus dem Wald gehe, haben wir beide ein Problem.", entgegnete ich.
"Aber es sieht trotzdem harmloser aus, wenn du tagsüber aus dem Wald kommst als nachts."
Ich nickte, worauf Liam mich angrinste. "Na dann."
Er rückte ein Stück von der Kante Weg und breitete sich auf dem Dach aus. Zögernd legte ich mich neben ihn, mit bewusstem Abstand zwischen uns.
Das Dach war noch ein wenig aufgewärmt. Ich verschränkte die Arme unter dem Kopf und blickte in den Sternenhimmel hinauf. Neben mir hörte ich Liam leise seufzen. Dachte er an zu Hause? An seine Familie? Ich musste an meine Familie denken. Daran, dass sie wahrscheinlich alle tot waren. Erneut stiegen mir Tränen in die Augen. Hatte ich genug um sie getrauert? Ausreichend Tränen  vergossen? In den letzten Tagen hatte ich sie fast vergessen. Auf einmal kamen mir Bilder von früher in den Kopf. Meine Mutter, wie sie uns morgens Spiegeleier zubereitete. Vater, wie er sich beim Frühstück von uns verabschiedete, bevor er zur Arbeit aufbrach. "Ärgert die Lehrer nicht", hatte er gesagt und Em und mir einen Kuss auf die Stirn gegeben. Dann hatten wir uns fertig gemacht und waren in die Schule gegangen. Ich hatte Em an die Hand genommen und bis zu ihrer Klasse geführt. Nachmittags wartete Mutter immer schon sehnsüchtig auf uns. "Wie war's?", fragte sie jeden Tag. Und dann saßen wir dort zu dritt und aßen das wenige Essen, was Mutter tagsüber für viel Geld auf dem Markt bekommen hatte. Und irgendwie war dann immer alles gut. Nie perfekt, nein. Aber wo ist es das schon?
"Liam", hauchte ich.
Er drehte sich zu mir um. Ich rückte ein wenig näher an ihn heran, bis unsere Körper nur noch einige Zentimeter trennten.
"Ja?"
Ich hob den Kopf ein wenig und stützte ihn auf meine Ellenbogen, sodass ich ihm direkt in die Augen schauen konnte. Mein Zopf hatte sich gelöst und nun fielen meine Haare sanft über meine Schultern.
"Wer ist diese Person, der du helfen musst?"
Schmerz spiegelte sichtbar in seinen Augen wider, als er mit zitternder Stimme antwortete: "Mein kleiner Bruder. Als ich gefangen genommen wurde, war er erst drei Jahre alt. Ich war sieben. Seit dem sind 11 Jahre vergangen. Ich kann mich nicht mehr so gut an ihn erinnern. Ich weiß nur noch, dass Vater ihn grausam behandelt hat. Mein Bruder heißt Tommy. Jedes mal, wenn Tommy etwas gegen die Regierung und... Lucius sagte, schlug mein Vater ihn und beschimpfte ihn als Fehlgeburt..." Bei jedem Wort nahm Liams Stimme an Verabscheuung und Schmerz zu.
"Dann stand dein Vater also hinter Lucius?", schmunzelte ich.
"Kann man so sagen, ja."
Er holte zitternd Luft und fuhr fort: "Ich weiß, dass Tommy seit ich weg bin keinen normalen Tag mehr hat. Vater wird ihm das Leben zur Hölle machen... Zu wissen, dass ich ihn nie mehr wieder sehen werde, dass ich ihm nicht helfen kann, so wie das Brüder eigentlich machen, ist die größte Qual die es für mich gibt." Liams Augen füllten sich mit Tränen und er schaute schnell in dem Himmel, um sie vor mir zu verbergen.
Ich legte vorsichtig meine Hand auf seine Schulter. Meine Gedanken schweiften zu dem Tag, an dem Liam mir das Dorf gezeigt hatte. An unsere erste Begegnung. An seinen ernsten Blick, als er erfuhr, dass meine Schwester auch hier war. Wie er sich abgewandt hatte und davon ging. Einfach so. Und auf einmal ergab alles einen Sinn. Was würde er dafür tun, dass sein kleiner Bruder auch hier ist.
"Liam...", setzte ich an, "Ich helfe dir den Ausgang zu finden. Wir werden die Mauer erreichen. Und dann verlassen wir dieses Dorf. Zusammen."
Er lächelte dankbar und seine strahlenden Zähne blitzten in der Dunkelheit der Nacht auf.
"Danke, Allie." Dann beugte er sich vor. Sein Gesicht war unmittelbar vor meinem. Ich konnte seinen warmen Atem auf meiner Haut fühlen. Mein Herz pochte heftiger und einen kurzen Moment bekam ich Angst, er könne es hören. Liam legte eine Hand in meinen Nacken und zog meine Stirn an seine. Reflexartig schloss ich die Augen. Ich spürte Liam atmen, ganz langsam und gleichmäßig. Spürte seinen Körper, wie er sich sanft an meinen schmiegte. Ich schlang meine Arme um ihn. Dann Hob er seinen Kopf noch ein kleines Stück und gab mir eine Kuss auf die Stirn. Dort, wo seine Lippen meine Stirn berührt hatten, begann meine Haut zu kribbeln. Liam drückte meine Stirn wieder an seine und schaute mir fest in die Augen. "Verdammt, Allie. Was machst du nur mit mir?"
Er legte seine muskulösen Arme um meine Taille und zog mich so eng an sich, das sein Körper meinen umhüllte, als würde er mich vor der Dunkelheit beschützen. Diese Berührungen gaben mir das Letzte. All der Kummer, den ich die letzten Tage zu unterdrücken versucht hatte, kam hoch. Heiße Tränen strömten mir das Gesicht herunter. Liams Finger strichen langsam die glänzende Spur entlang, die sie hinterließen. Und ich ließ mich fallen. In die Dunkelheit, die Verborgenheit seiner Umarmung. In die Träume, die ich so lange nicht mehr hatte. In den Schlaf, den ich so dringend brauchte. In die Sicherheit, die er mir damit bot.

Und kurz bevor ich, immer noch weinend, in den Schlaf glitt, flüsterte ich: "Am Ende wird alles gut, Liam."

*****

Naa :) Ich wollte nur nochmal sagen, dass ich weiß, wie langweilig diese Geschichte momentan ist. Aber später, die nächsten Kapitel, bemühe ich mich, sie spannender zu gestalten. :D Alsooo habt noch ein wenig Geduld mit mir, das ist meine erste Geschichte auf Wattpad und deswegen bin ich noch ein wenig unerfahren 😌.
-Strawberry_mixx

The Mavericks - Zone 5Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt