Todeshauch (3|2)

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»Warum hast du gesagt, dass ich hier nicht sicher wäre?«, eröffnete ich die Fragerunde, von der ich hoffte, dass sie mir Erleichterung oder zumindest Sicherheit verschaffen würde.

»Weil es die Wahrheit ist«, antwortete Eldastin.

»Ja, aber ... wer hat es auf mich abgesehen und woher weißt du das?«

»Ich weiß nicht, wer es auf dich abgesehen hat«, entgegnete Eldastin. »Aber ich schätze, es sind die Niederlinge oder die Vindr oder die Waldalben oder die Menschen oder-«

»Wieso sollten die es alle auf mich abgesehen haben?«, unterbrach ich ihn gereizt.

Eldastin erwiderte meinen zornigen Blick mit einer Kühle, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Doch dann geschah etwas Seltsames: Er senkte den Blick, als könnte er mir nicht länger standhalten. »Du solltest es nicht auf diese Weise erfahren.«

»Was?«, fragte ich und konnte nicht verhindern, dass meine Stimme sogar in meinen eigenen Ohren unangenehm schrill klang.

Eldastin zögerte einen Moment, dann straffte er die Schultern und sah mich direkt an. »Es gab einen Anschlag auf das Leben deines Vaters.«

Ich konnte spüren, wie der Boden unter mir nachgab, auch wenn es vermutlich nur meine Knie waren, die ganz plötzlich weich geworden waren. 

Um nicht zu stürzen, lehnte ich mich gegen die Mauer und schreckte gleich darauf zurück, als eines der Schutzartefakte bei der Berührung hell aufleuchtete. 

»Ist er ... ist er tot?«, würgte ich heraus.

»Noch nicht«, antwortete Eldastin schleppend. »Aber es gibt keine Hoffnung.«

»Keine ...?« Mir stockte der Atem. »Wie kann das ... wie kann das sein?«

»Wir vermuten ... irgendeine niedere Kunst oder ein Gift. Was es auch ist, dein Vater liegt im Sterben. So wie ...« Eldastin zögerte einen Wimpernschlag lang, dann gab er seinen inneren Widerstand auf und fuhr fort: »... der Rest deiner Familie.«

Bei diesen Worten konnten mich meine Knie nicht mehr halten. Ich sackte langsam in eine gehockte Position. Eine eiserne Klaue schien sich um meine Brust zu schließen und die Tränen förmlich aus mir herauszumelken. »Das ... kann nicht sein.« Ich schüttelte den Kopf, während sich scharfe Krallen in mein Herz bohrten. Meine Familie und ich hatten uns nie nahegestanden, ganz im Gegenteil, aber das bedeutete nicht, dass ich ihnen den Tod wünschte. »Mein Vater ist der König der Alben. Mit Sicherheit gibt es irgendeine Lösung.«

»Ich fürchte nicht«, erwiderte Eldastin. »Tut mir leid.«

»Es tut dir leid?«, wiederholte ich und konnte nicht verhindern, dass sich meine Fassungslosigkeit in Zorn verwandelte. »Du weißt doch gar nicht, was das bedeutet. Es tut dir leid«, schnaubte ich und wischte mir die Tränen von den Wangen. Dabei kochten alte Erinnerungen in mir hoch. Mein Vater, wie er erfolglos versucht hatte, mir das Windlesen beizubringen. Oder wie er mir zur Sienada meine ersten Albenstiefel geschenkt hatte und ich mich vehement geweigert hatte, sie zu tragen. »Wie konnte das passieren?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Eldastin. »Und es liegt nicht an mir, das herauszufinden. Die letzte Anweisung deines Vaters an mich lautete, dich zu finden und nach Albenheim zu bringen, damit du deine rechtmäßige Position einnehmen kannst.«

»Meine rechtmäßige Position?«

»Als Königin«, sagte Eldastin. »Immerhin bist du die letzte lebende Nachfahrin des Königs. Und auch wenn du nur eine Halbalbin bist, sind unsere Gesetze in dieser Hinsicht-«

Ich hörte ihm nicht länger zu. Stattdessen sprang ich auf und hämmerte mit der Faust an die Tür. »Wache! Lasst mich raus! Ich will hier raus!«

»Alina!«, protestierte Eldastin, aber ich ignorierte es.

»Bitte! Die Tür! Schnell!«

Endlich öffnete sich die Tür und ich stolperte hindurch. In meiner Kehle schien ein dicker Kloß festzustecken. Ich würgte und bekam trotzdem keine Luft.

Halb blind vor Verzweiflung taumelte ich den Korridor hinunter, vorbei an den überrumpelten Gefängniswächtern und durch eine nur angelehnte Tür hinaus auf einen Wehrgang, der zum Fluss zeigte.

Dort klammerte ich mich an eine der steinernen Brüstungszinnen und verlor vollkommen die Beherrschung. Es kam mir vor, als würde ich mich in Salzwasser auflösen. Die Tränen strömten mir nur so über die Wangen. Ich krümmte mich über die Mauer und wurde von Schluchzern geschüttelt, die mich immer wieder verzweifelt nach Luft schnappen ließen.

Nach einer Weile war ich derart benommen und erschöpft, dass ich mich zu Boden sinken lassen musste. Die Tränen versiegten Tropfen für Tropfen. Mein Mund war trocken. Alles schmerzte. Ich fühlte mich aufgedunsen, leer und dumpf. Als säße ich unter einer großen Käseglocke. Nichts schien mehr eine Bedeutung zu haben. Mein Vater war tot. Meine Stiefmutter, meine Brüder und Schwestern ... waren tot. Oder zumindest zum Tode verdammt. Wie konnte das sein? Wie hatte das nur passieren können? Wieso war dieser Anschlag nicht verhindert worden?

Wie benebelt vor Müdigkeit und Trauer blinzelte ich in den Himmel und flehte die Guten Winde um Beistand an. Dabei wurde mir bewusst, dass ich seit vielen Jahren nicht mehr zu den Winden gebetet hatte. Seit meiner Flucht aus Albenheim.

Und noch etwas wurde mir bewusst: Der Himmel kündigte irgendein schauerliches Unglück an. So schwarz und unheilvoll, wie die Wolken über der Stadt aufragten, musste man kein Windleser sein, um die Bedrohung zu erkennen.

Überall in den Straßen und Gassen von Gronholt breiteten sich finstere Schatten aus. Am Himmel erhellte dagegen gleißendes Wetterleuchten die brodelnden Wolkengebilde, die immer neue Dunkelheiten hervorbrachten. Und dann kam der Sturm. Erfüllt von feinem Nieselregen, bitterem Gestank und eisiger Kälte fegten die Windböen über die Dächer der Stadt, zerrten an den Fensterläden, Fahnenmasten, Wäscheleinen und Fabrikschloten. 

Die Bäume am Ufer des Beletz senkten die Köpfe und die Wasseroberfläche erzitterte, als wäre sie von einem spürbaren Hauch des Todes gestreift worden. Ich vernahm ein Brausen und Rauschen, ein Knacken und Knistern, ein Tosen und Donnern. 

Die Böen erreichten die Festung und fauchten über die Mauerzinnen, rissen an meinen Haaren und nahmen mir die Luft zum Atmen. 

Ich kauerte mich zusammen und bedeckte mein Gesicht schützend mit den Händen.

Noch während ich so dasaß und darauf hoffte, dass alles nur ein böser Traum wäre, ertönte irgendwo in der Stadt ein langgezogenes Heulen. 

Jedes Kind wusste, was das bedeutete, auch wenn es sehr lange her war, dass man diesen Klang in Gronholt vernommen hatte. Er bedeutete Alarm. Vindr-Alarm.


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