Irgendwie musste ich dann doch eingeschlafen sein.
Als ich wieder erwachte, konnte ich nicht sagen, wie viel Zeit vergangen war. Es mussten jedoch einige Stunden verstrichen sein, denn wir hatten inzwischen die Holzlanden erreicht. Vor dem Fenster erhoben sich mächtige Baumriesen, umgeben von dichtem, buschigem Unterholz. Vereinzelt brachen Sonnenstrahlen durch das Blätterdach und malten gelbe und rote Farbtupfen auf den Waldboden.
Mein Blick wanderte durch das Abteil. Der Platz neben mir war bis auf Carmen, den Kaktus, leer.
Auf der anderen Seite des Tisches war Ludvik gegen Eldastin gesackt und ruhte mit dem Kopf auf dessen Schulter. Dabei schnarchte er wie ein Ein-Mann-Sägewerk.
Eldastin war bereits wach – sofern er überhaupt geschlafen hatte – und warf mir einen Blick zu, als wollte er mich anflehen, seinem Leben ein möglichst schnelles Ende zu bereiten.
»Wo ist Bruin?«, fragte ich. Meine Stimme klang heiser und ich hatte einen seltsamen, metallischen Geschmack im Mund.
»Sie sagte, sie würde sich was zu essen suchen.« Eldastin blinzelte in einen Sonnenstrahl, der sein Gesicht streifte. Seine Wimpern waren genauso aschblond wie seine Haare und Augenbrauen. »Ich habe nicht weiter nachgefragt.«
»Gute Entscheidung«, erwiderte ich. Was Bruin unter Essen verstand, war in der Regel nicht sonderlich appetitlich. Meine Gedanken wanderten zurück zu unserer gestrigen Unterhaltung. »Du ... Eldastin?«
Eldastin sah mich an. Er wirkte resigniert. Wie ein in die Ecke gedrängtes Tier, das es aufgegeben hatte, sich zu wehren. Es war ungewohnt, bei ihm ein Anzeichen von Schwäche zu sehen.
»Das mit deinem Bruder und deiner Familie tut mir leid.«
»Muss es nicht.« Eldastin verzog die Lippen. »Es ist ja nicht deine Schuld.«
»Aber vielleicht schon.« Ich seufzte und hatte das Gefühl, dabei wie ein zu kurz gebackener Eierkuchen in mich zusammenzufallen. »Wenn ich Albenheim damals nicht verlassen hätte ...«
»Dann wärst du jetzt ebenfalls tot.«
»Vielleicht hätte ich irgendwas tun können, um das zu verhindern.«
»Hättest du nicht.«
»Wie kannst du dir da so sicher sein?«
»Wer auch immer dahintersteckt, hat das alles von langer Hand geplant. Ich denke nicht, dass es zu verhindern gewesen wäre.«
»Erst recht nicht von mir«, murmelte ich.
Eldastin schwieg, was ich als Zustimmung deutete. Und wahrscheinlich hatte er Recht. Was hätte ich schon tun können, um diesen Anschlag zu verhindern? Vermutlich war es besser, wenn ich einfach nur dankbar dafür war, noch am Leben zu sein.
Außerdem ... was hatte meine sogenannte Familie jemals für mich getan – außer dem baren Minimum? Mein Vater hatte mir eine Unterkunft zur Verfügung gestellt, Kleidung und Essen. Was das anging, hatte es mir an nichts gemangelt. Doch Zuwendung oder gar Liebe ...? Ich erinnerte mich daran, dass er anfangs noch versucht hatte, eine Beziehung zu mir aufzubauen, doch dann musste er den Gefallen an mir verloren haben, hatte mich wie ein abgenutztes Spielzeug einfach in eine Ecke gestellt und nie wieder hervorgeholt. Der Gedanke schmerzte heute noch genauso wie damals. Wieso hatte er mich nicht geliebt? Hatte ich irgendetwas falsch gemacht?
»Eldastin ...?«, flüsterte ich.
Eldastin nickte, zum Zeichen, dass er mich gehört hatte.
»Wie hast du es geschafft, dass mein Vater eine so hohe Meinung von dir hatte?«
Es dauerte einen Moment, bis Eldastin antwortete. »Dein Vater hatte keine hohe Meinung von mir.«
»Aber er hat dich geschickt, um mich zu suchen.«
»Und ich denke, er hätte es nicht getan, wenn er irgendeinen anderen Ausweg gesehen hätte.« Nach einer kurzen Pause ergänzte Eldastin: »Dein Vater und ich haben sehr unterschiedliche Ansichten.«
»Dann hat er diese Hochzeit arrangiert, um dich zu demütigen?«
»Um mich zu demütigen?«, wiederholte Eldastin nachdenklich. »Nein, ich denke nicht. Unsere geplante Verbindung ist eine rein politische Angelegenheit.«
»Politisch?«, hauchte ich und fühlte mich zum wiederholten Mal vor den Kopf gestoßen.
Eldastin musterte mich verwundert. »Ja, politisch.« Er schien seine nächsten Worte mit Bedacht zu wählen. »Ich frage das wirklich nicht gerne, aber hast du irgendeine Vorstellung davon, wie Albenheim funktioniert?«
Ich dachte, das hätte ich. Aber ganz offensichtlich hatte ich es nicht.
Die Tür zu unserem Abteil öffnete sich und Bruin glitt über die Schwelle. »Hey ...«, flüsterte sie, vielleicht, um Ludvik nicht zu wecken. »Wir halten gleich an.« Sie deutete aus dem Fenster. »In einem hübschen Örtchen namens Twisdal. Es heißt, sie müssten die Kohlevorräte aufstocken.«
»Wir machen eine Pause?«, fragte ich hoffnungsvoll.
Die Nacht in diesem schaukelnden Eisenkäfig hatte mir zwar Schlaf, aber wenig Erholung beschert, und ich ging davon aus, dass es Eldastin genauso ergangen war. Etwas frische Luft würde uns beiden guttun.
Als der Zug wenig später in den Bahnhof von Twisdal einfuhr, wachte Ludvik auf und streckte seine Glieder wie eine zufriedene Katze. Eldastin nutzte die Gelegenheit, um sich an ihm vorbei aus der Sitzecke zu zwängen. Wir nahmen Ludvik das Versprechen ab, auf unser Gepäck aufzupassen, und verließen den Wagen.
Ich war schon ein paar Mal in den Holzlanden gewesen. Meistens aus beruflichen Gründen, aber hin und wieder auch zum Einkaufen oder um Freunde von Bruin zu treffen. Die Holzmannen waren ein ungewöhnliches Völkchen, aber das sagte wohl jedes Volk über die anderen Völker Hertlands. Im Gegensatz zu den Freymannen, die als lebenslustig, fröhlich und warmherzig galten, waren die Holzmannen eher zurückhaltend und misstrauisch. Wie die Zwerge aus den Legenden, die in ihren unterirdischen Palästen auf unermesslichen Schätzen hockten und neidisch auf jeden schielten, der auch nur einen Bruchteil von dem besaß, was sie in ihren Schatzkammern hüteten. Tatsächlich hatte der Holzhandel dem Land in den vergangenen Jahren einen bemerkenswerten Wohlstand beschert. Vermutlich war König Daristan deshalb auch so wohlwollend, was die angestrebte Unabhängigkeit Freymolds anging. Freymold hatte sich vor etwa hundert Jahren von den Holzlanden losgesagt, woraufhin es immer wieder zu kriegerischen Handlungen zwischen den Ländern gekommen war, bevor beide Parteien ihre Differenzen im Abkommen von Brucklin vorläufig beigelegt hatten. All die Jahre war es den Holzmannen auch gar nicht so sehr um das Land an sich gegangen – da in Freymold keine größeren Baumbestände Wurzeln schlagen wollten, war der Boden in ihren Augen ohnehin wertlos –, sondern vielmehr um den Beletz. Vor der Erfindung der Eisenbahn war der Fluss ein wichtiger Transportweg gewesen. Jetzt waren die Holzlanden scheinbar ganz glücklich damit, die Zuglinien, die durch ihr Gebiet führten, zur Beförderung ihrer Holzwaren zu nutzen und alle anderen Produkte mit horrenden Zollgebühren zu belegen. Es hieß, auf diese Weise würden sie die Freymolder Wirtschaft kaputt machen wollen – und natürlich konterten die Freymannen, indem sie die Funktion Gronholts als Industriestadt, Handelsknotenpunkt und Umladestation ausspielten. Und auch wenn allgemein befürchtet wurde, dass sich diese Spannungen irgendwann wieder zu Gewalt hochschaukeln könnten, herrschte derzeit ein recht entspanntes Verhältnis zwischen den beiden Völkern. Vor allem in Zeiten der Not schienen die Menschen einander beizustehen. Davon zeugte jedenfalls das Empfangskomitee, das uns am Bahnhof von Twisdal erwartete.
DU LIEST GERADE
ALBENBLUT
FantasySeit dem Großen Sturz wird die Welt der Menschen von Ober- und Niederlingen bevölkert, die sich gegenseitig bekriegen. Inmitten dieser Spannungen hat Albenprinzessin und Halbblut Alina ihre Heimat verlassen, um ihrer Hochzeit mit dem reinblütigen E...