Wo wir hingehen (10|3)

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»Ist das dein Ernst?«

Ayk zog an der Schnur, mit der er mich gefesselt hatte. »Aber sicher doch. Der Chef verlässt sich auf mich.«

Ich tappte langsam hinter ihm her. »Sind wir nicht sowas wie Freunde?«

»Würde gerne, Zuckerfee«, seufzte Ayk. »Und wenn der Chef seinen richtigen Körper zurück hat, können wir gerne nochmal darüber sprechen.«

»Na toll. Bis dahin bin ich tot.«

»Ach, wer weiß? Vielleicht hat unser Geschäftspartner ganz andere Pläne mit dir.«

»Und das soll mich aufmuntern?«

»Vielleicht will er nur eine Audienz bei der zukünftigen Königin«, schlug Ayk vor.

Ich warf ihm einen bösen Blick zu. Anscheinend hatte sich mein Schicksal sogar bis zu den zwielichtigsten Ganoven Hertlands herumgesprochen.

Ayk erwiderte meinen Blick mit einem sanften, beinahe einfältig wirkenden Lächeln. Doch natürlich war er keineswegs so harmlos, wie er mich glauben machen wollte.

»Wer bist du, Ayk?«, wollte ich wissen.

Ayk wandte sich ab und zuckte mit den Schultern. Seine Rüstung war von Kratzern und Brandspuren übersät. Auch sein Gesicht und seine Rippen hatten etwas abbekommen.

Bei mir waren es der Rücken und die aufgeschürften Arme und Knie. Dazu der Schnitt an der Wange und mehrere nässende Brandwunden.

Es war nicht zu leugnen: Wir litten beide Schmerzen – und wir litten beide stumm, um vor dem jeweils anderen keine Schwäche zu zeigen.

»Was denkst du, wer ich bin?«

Ich legte den Kopf in den Nacken und spähte zu den Baumkronen hinauf. Pünktlich zur Sienada hatte das Laub eine rotgoldene Färbung angenommen. Als hätte der Herbst nur darauf gewartet, über das Land herfallen zu können. »Na ja ... du bist kein Sandalusier«, sagte ich, einfach nur, um meinen Kopf zu beschäftigen. »Aber du folgst Chatte wie ein Manu seinem Sandalkhan.«

»Wo komme ich denn deiner Meinung nach her?«

Ich musterte Ayks Rücken. »Deine Kehrseite ist nicht besonders aufschlussreich.«

Ayk lachte, drehte sich zu mir herum und setzte seinen Weg rückwärts gehend fort. Der Boden war mit Laub und Tannennadeln übersät, die unter unseren Schuhen ein knirschendes Geräusch verursachten.

»Hm ...«, machte ich. Ayks Hautfarbe nach zu urteilen, stammte er aus Zentral-Hertland, nicht aus dem warmen Süden und auch nicht aus dem kalten Nordwesten. »Aus Onderflor?«, riet ich.

Ayk blies die Wangen auf. »Wieso das?«

Jetzt war ich es, die nur mit den Schultern zucken konnte. »Du siehst ziemlich ... anders aus. Und die Menschen in Onderflor haben den Ruf, sehr anders zu sein.«

»Gutes Argument«, sagte Ayk nickend. »Aber nein, ich bin in Lyrien geboren.«

Ich runzelte die Stirn. Die Lyrer waren das genaue Gegenteil der Onderen. Ein Volk aus Berufsadeligen, dem man nachsagte, nur faulenzen und feiern zu können. Berühmt waren sie lediglich für ihre ständig wechselnden Regenten – und für die großen Edelsteinvorkommen im östlichen Teil der Krumrim-Berge.

»Was?«, fragte Ayk amüsiert. »Du wirkst ungläubig.«

»Bin ich auch.«

»Kann ich mir denken.«

Ayk wandte sich wieder dem Pfad zu, der eine bewaldete Anhöhe hinaufführte. Dicke, knotige Wurzeln wanden sich über den Weg. Der Wind raschelte in den Bäumen.

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