Seit Tagen habe ich mein Zimmer nicht verlassen. Wozu auch? Mein Leben ist verwirkt. Eigentlich war es das ja schon immer. Nur hatte ich nie vor, jemand anderen mit mir in den Abgrund zu ziehen. Doch dafür ist es jetzt wohl zu spät. Lord Eluin hat mir sehr deutlich gemacht, was unsere Hochzeit für seinen Sohn bedeuten wird. Er wolle nur die Fakten klären, hat er gesagt. Die Fakten. Immer wieder gehen mir diese beiden Wörter durch den Kopf.
Fakt ist, Eldastin und ich werden heiraten.
Fakt ist, Eldastin hat dieser Hochzeit nicht zugestimmt, weil er irgendwas für mich empfinden würde. In dieser Hinsicht hätte sein Vater nicht deutlicher sein können.
Fakt ist, Eldastin und ich werden keine Kinder haben. »Die Welt braucht wirklich nicht noch mehr Albenbastarde, da werdet Ihr mir sicher zustimmen, nicht wahr, Prinzessin?«, hat Lord Eluin zu mir gesagt. Und ich habe es mit einem gequälten Lächeln hingenommen. Es ist ja nicht so, dass ich unbedingt jetzt schon Kinder haben will, aber zu hören, dass man niemals Kinder haben wird, ist trotzdem ein Schlag in die Magengrube. Dazu kommt, dass ich mit dieser Hochzeit auch Eldastin zur Kinderlosigkeit verdamme. Ausgerechnet ihn, der mit einer reinblütigen Albin so viele hübsche und talentierte Söhne und Töchter haben könnte. Kein Wunder, dass er mich nicht leiden kann.
Fakt ist außerdem, dass ich Eldastins neuer Lebensinhalt sein werde. Als Prinzgemahl wird sich sein ganzes zukünftiges Leben um mich und meine Bedürfnisse drehen. Das bedeutet, er wird im Palast wohnen und Albenheim nur noch mit meiner Erlaubnis verlassen dürfen. Seine Tätigkeiten werden in erster Linie repräsentativer Natur sein. Mit anderen Worten: Er wird zur Dekoration gehören. Wie eine eindrucksvolle Vorhalle oder ein ansehnlicher Blumengarten. Es wird nicht von ihm erwartet, eine eigene Meinung zu haben. Und wenn er doch eine haben sollte und diese äußern will, muss er es hinter verschlossenen Türen tun. Generell wird sich ein Großteil seines Lebens hinter verschlossenen Türen abspielen. Allerdings darf er Freunde von mir zum Teekränzchen einladen und mich zu den vielen Tänzen der Ballsaison begleiten. Schaukämpfe, Maribel-Training und Reisen sind dagegen in Zukunft tabu.
Es ist ein Gefängnis, das ist mir klar. Nicht nur für Eldastin, sondern auch für mich. Wir werden wie zwei Marionetten an den Fäden meines Vaters sein. Für mich ist das beinahe eine Ehre, aber für Eldastin ... und wie soll ich mit einem Mann zusammenleben, der nichts als Hass für mich empfindet? Wobei ... zusammenleben vielleicht das falsche Wort ist. Alben leben nicht auf die Art und Weise zusammen, wie es die Menschen tun. Sie teilen auch nicht das Bett miteinander. Alles, was Intimität betrifft, ist in Albenheim entweder streng ritualisiert oder tabuisiert. Nähe, Zärtlichkeit und Vertrautheit sind Dinge, die reinblütige Alben nicht zu brauchen scheinen. Ich dagegen sehne mich danach. Nicht rund um die Uhr, aber immer dann, wenn ich mich einsam, alleine und verlassen fühle. Abseits der Tanzveranstaltungen dürfen Eldastin und ich uns nicht einmal an den Händen halten. Nicht, dass er oder ich das wollen würden.
Umso länger ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir, dass ich in Albenheim niemals glücklich sein werde.
Ich habe mich schon damit abgefunden, niemals dazuzugehören oder anerkannt zu werden, aber irgendwie habe ich stets geglaubt, trotzdem mein Glück finden zu können. Wie die Helden in den Märchen, von denen in vielen Menschenbüchern die Rede ist. Doch ich muss der Wahrheit ins Gesicht sehen: Albenheim wird nicht nur mein Gefängnis sein, sondern mein Grab. Wenn ich Eldastin heirate, wird das mein Ende sein. Mein Ende und sein Ende. Wobei ich den Eindruck habe, dass er die Situation besser bewältigen wird als ich. Schon allein, weil er keine Seele hat. Aber ich habe eine Seele. Und die wird in Albenheim eingehen wie eine vertrocknende Blume.
In diesem Moment werden vor meinem Gemach Stimmen laut. Mein Blick schnellt in die Höhe und ich sehe direkt in zwei kleine, schwarze Glasmurmelaugen.
Der Lyrenvogel, der mir vor ein paar Monaten zugeflogen ist und seitdem auf einer Stange neben meinem Bett sitzt, legt den Kopf schief und mustert mich eingehend. Ich glaube, er ist viel klüger als die meisten Menschen und Alben denken. Und aus irgendeinem Grund scheint er auch anhänglich zu sein. Jedenfalls fliegt er nicht weg, auch wenn er das jederzeit könnte. Ich käme nicht auf die Idee, ihn in einen Käfig zu stecken. Kein Alb würde das tun. Vögel sind uns heilig.
Der Lärm vor meinem Gemach schwillt weiter an.
Unwillig wälze ich mich aus dem Bett, richte meinen Soare, eine Art albischen Morgenrock, und öffne die Tür.
»-schon! Was hast du hier verloren, Aurelian?«
Die Stimme gehört meinem Bruder Nevellin.
Vorsichtig strecke ich den Kopf aus der Tür und entdecke ihn am anderen Ende des Flures, halb verdeckt von einer Kristallpalme.
Es heißt, Kristallpalmen wären die einzigen Pflanzen, die in Albenheim wachsen. Dabei sind es in Wirklichkeit bloß komische Steine. Hübsch, keine Frage, aber leblos. So wie alles hier oben.
»Das hat er doch schon gesagt«, höre ich Oriane keifen. Sie hat wirklich eine unangenehm schrille Stimme, besonders, wenn sie sich aufregt.
»Mit dir habe ich nicht geredet«, erwidert Nevellin streng. In einem gehässigen Tonfall ergänzt er: »Kannst du deine Schwester nicht unter Kontrolle bringen?«
»Sie hört ja nicht einmal auf mich, wenn ich ihr einen sinnvollen Vorschlag mache, also nein, ich denke nicht.«
Diese Stimme habe ich noch nicht oft gehört, aber ich erkenne sie trotzdem als die von Eldastin.
Noch ehe ich darüber nachdenken kann, husche ich zur Tür hinaus und schleiche mich an die drei Alben heran. Beim Näherkommen erkenne ich, dass Nevellin meinem Verlobten und seiner Schwester den Weg versperrt. Seine favorisierte Maribel schwebt etwa auf Höhe seiner Schulter. Eine unverhohlene Drohung.
»Ich habe eine Audienz beim König«, fährt Eldastin fort, während ich mich unauffällig an der Wand entlangdrücke und dabei mit der Umgebung zu verschmelzen versuche. »Und ich dachte, ich könnte vorher noch kurz mit Prinzessin Alionora sprechen.«
»Ach, das dachtest du?« Nevellin verschränkt die Arme vor der flachen Brust. »Ist es nicht gegen die Tradition, dass Braut und Bräutigam vor der Hochzeit miteinander sprechen?«
Eldastin verzieht keine Miene. Er trägt die legere Variante einer Wasira. Das fließende Gewand ist hinten länger als vorne und bildet eine kleine Schleppe. Darunter kommen schmal geschnittene Hosen und weiche Lederstiefel zum Vorschein. Alles in verschiedenen Abstufungen von hellblau bis dunkelgrau. »In Anbetracht der Umstände dachte ich, dass ein kurzes Gespräch durchaus angemessen wäre.«
»Was für Umstände?«, will Nevellin wissen. »Du hättest einen Galgen verdient und darfst nun die Tochter deines Königs heiraten. Du solltest jubilieren vor Glück.« Er schielt in meine Richtung. Natürlich hat er mich längst bemerkt. Ich hätte einen Gang wie ein sandalusisches Kamel, hat er mir mal gesagt. »Auch wenn ich es verstehen könnte, wenn du den Galgen vorziehen würdest.«
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ALBENBLUT
FantasySeit dem Großen Sturz wird die Welt der Menschen von Ober- und Niederlingen bevölkert, die sich gegenseitig bekriegen. Inmitten dieser Spannungen hat Albenprinzessin und Halbblut Alina ihre Heimat verlassen, um ihrer Hochzeit mit dem reinblütigen E...