Diese Erkenntnis machte mich traurig. Ludvik wollte mich trösten, aber ich wich seiner Umarmung aus, so wie früher, als ich noch nicht daran gewöhnt gewesen war.
Den Rest des Weges trottete ich hinter ihm her und hing dabei meinen eigenen finsteren Gedanken nach. Ich dachte an meine ersten Tage in der Menschenwelt, an meine lange Reise durch die Fermark und die Holzlanden und daran, wie ich meine Ohren versteckt hatte, damit niemand erkannte, dass ich ein Oberling war.
Erst Jahre später hatte ich mich zum ersten Mal ohne Hut, Mütze oder Kapuze auf die Straße getraut. Ich wusste noch, dass es Bruin war, die mich dazu ermutigt hatte. Es war so befreiend gewesen, endlich ich selbst sein zu können.
Und jetzt war plötzlich alles anders. Ich war wieder eine Ausgestoßene. Wieder alleine und auf der Suche.
Unsere Umgebung spiegelte meine düsteren Gedanken wider.
Das Schadenviertel trug diesen Namen, weil es ursprünglich im Schatten großer Loheschen gelegen hatte, die irgendwann im Rahmen der Industrialisierung abgeholzt worden waren, um Platz für die berühmten Gronholter Textilfabriken zu schaffen. Hier wurden Flachs, Baumwolle und Hanf von den weitläufigen Feldern Freymolds zu Stoffen gewebt und gesponnen, gebleicht, gefärbt und schließlich ins Ausland verkauft, wo die Freymolder Leinwaren einen guten Ruf besaßen und sehr begehrt waren.
Die Textilienproduktion ging jedoch mit einer ganzen Reihe unschöner Nebenprodukte einher, die ohne schlechtes Gewissen in den Beletz geleitet wurden und das Wasser südlich der Fabriken verseuchten.
Dementsprechend herrschte im Schadenviertel ein schier unerträglicher Gestank nach Chemikalien. Dazu kam, dass der Bezirk noch nicht an das städtische Abwassersystem angeschlossen war. Auch eine Straßenbeleuchtung suchte man hier vergebens. Die öffentlichen Küchen waren heruntergekommen, verdreckt und laut Ludvik zu Umschlagplätzen für Hehlerware, illegale Artefakte, Manroos-Saft und andere berauschende Substanzen umfunktioniert worden.
Ich war in meinem ganzen Leben nur ein einziges Mal in dieser Gegend gewesen. Damals hatte ich Artefakte, die bei einer Razzia beschlagnahmt worden waren, persönlich in Empfang nehmen müssen, um sie zur Universität zu bringen und zu untersuchen. Seitdem hatte sich jedoch nicht viel verändert. Die Menschen, die im Schadenviertel lebten, waren entweder unterbezahlte Fabrikarbeiter, Tagelöhner, Bettler oder glücklose Gauner.
Davon abgesehen, hatten sich in den vergangenen Jahren einige Niederlinge in der Gegend niedergelassen. Es hieß, sie würden den Dreck und die Dunkelheit bevorzugen, doch ich wusste von Bruin, dass es für einen Niederling gar nicht einfach war, eine vernünftige Behausung zu finden. Oder auch nur eine halbwegs vernünftige Behausung.
Die meisten Häuser im Schadenviertel bestanden aus Holz. Es war das einfachste und billigste Baumaterial und wurde über den Beletz direkt in die Stadt geliefert. In der Nähe der Fabriken fanden sich allerdings auch ein paar Stein- und Tonziegelhäuser.
Die Bauten standen so dicht, dass kaum Licht in die verwinkelten Straßenschluchten drang. Der Boden war schlammig und aufgeweicht vom Regen der vergangenen Nacht und am Flussufer sammelte sich gelblicher, nach Bleiche und Lösungsmitteln stinkender Schaum. Zu meinem Entsetzen hüpften einige verwahrlost aussehende Kinder mit nackten Füßen darin herum. Gleichzeitig wurden ein paar Meter weiter Leichen aus dem Beletz gezogen. Vermutlich handelte es sich um Menschen, die von den Vindr getötet und in den Fluss geworfen worden waren – oder die auf der Flucht vor den Geflügelten ins Wasser gesprungen und ertrunken waren.
»Nicht hinsehen, Lina«, murmelte Ludvik. »Das ist kein schöner Anblick.«
Da hatte er Recht. Obwohl die Leichen erst ein paar Stunden im Wasser gelegen haben konnten, waren ihre Körper bereits aufgedunsen und ihre Haut gelb-grünlich verfärbt. Vielleicht kam das von den Chemikalien.
Unter Ludviks Führung entfernten wir uns vom Flussufer und näherten uns der Stadtmauer, die in dieser Gegend vor allem aus hellem Bruchstein und Lehm bestand. Es handelte sich um einen vergleichsweise neuen Mauerabschnitt, der immer wieder geschliffen und wiederaufgebaut wurde, um Platz für Neubauten zu schaffen. Man munkelte jedoch, dass die Erfindung der Eisenbahn die steinernen Wehranlagen schon bald obsolet machen würde.
»Da vorne ist es«, sagte Ludvik und führte uns in eine schmale Gasse, die an einer Seite von der Stadtmauer begrenzt wurde.
Die Häuser auf der anderen Seite waren krumm und schief, gedrungen, wie zusammengekauerte Käuzchen, mit kaputten Holzläden und löchrigen Schindeldächern. Eines der Häuser beherbergte einen Laden für Seidenwaren. Im verstaubten Schaufenster lagen ein paar zerknüllte Seidenstrümpfe und daneben stand eine Holzpuppe mit weiblichen Proportionen, die in ein durchsichtiges Tuch gehüllt war, das wohl ein Nachthemd darstellen sollte. Bruin hätte dieser Lappen wohl gefallen, aber ich zog es vor, ein wenig ... bedeckter zu sein.
»Achtung, Alina«, warnte Ludvik und half mir über eine stinkende Fäkalienpfütze, die von Fliegen umschwirrt wurde. Direkt dahinter waren die Messingleitungen des Rohrpostsystems derart verbogen, dass Ludvik und Eldastin sich darunter hindurchducken mussten.
Und dann sah ich auch endlich das Ziel unseres Ausflugs. Das Gebäude war nicht per se auffällig, aber es passte nicht an diesen Ort. Mit seinem gebogenen Dach und der zinnoberroten Holzverkleidung erinnerte es an einen nevellischen Tempel. Es besaß sogar die dafür typischen noerischen Spruchbänder, die von unten nach oben ins Holz eingeritzt wurden.
Von unten nach oben, dachte ich. Wie das Wasser aus der Erde steigt.
So stand es in den Büchern über die nevellische Kultur, die zu Zeiten des altsandalusischen Königreichs im Norden von Hertland sehr verbreitet gewesen war. Noch heute konnte man in Marasch und Salvia Spuren davon finden.
Bei diesem Gebäude musste es sich um einen Nachbau handeln. Jedenfalls war ich mir ziemlich sicher, dass ich es gewusst hätte, wenn in Gronholt ein nevellischer Tempel aufgetaucht wäre. Außerdem war das Gebäude viel kleiner als auf den Zeichnungen in den Büchern.
»Was ist das hier?«, fragte ich.
»Sieht aus wie ein Noeri-Tempel«, bemerkte Eldastin.
Verwundert drehte ich mich zu ihm um. »Woher weißt du, wie ein nevellischer Tempel aussieht?«
Für die Dauer eines Wimpernschlags wirkte Eldastin gekränkt, dann hatte er sich wieder im Griff. »Ich habe sie gesehen.«
»Wo?«
»In Marasch.«
»Wieso warst du in Marasch? Ich dachte, die meisten Alben würden Albenheim nur sehr ungern verlassen.«
»Vielleicht bin ich nicht wie die meisten Alben«, erwiderte Eldastin steif. »Außerdem war es früher Tradition, dass junge Alben ihre Heimat verlassen, um für eine Weile unter Menschen zu leben.«
»Wann war das denn bitte Tradition?«
»Bevor die Menschen in Lyrien und der Fermark anfingen, Alben zu jagen und einzusperren. Was denkst du denn, wie dein Vater deine Mutter kennengelernt hat?«
»Ich ... ich dachte ...«, stammelte ich. »Er sagte, sie wären sich nur zufällig begegnet.«
»Dann hat er dich wohl angelogen.«
Ich schluckte. Alben belogen einander nicht. Noch ein Beweis dafür, dass mein Vater mich nicht wie sein Kind, sondern wie einen Menschenbastard behandelt hatte. Und ausgerechnet ich sollte jetzt in seine Fußstapfen treten?
»Okay, Schluss jetzt.« Ludvik hob die Hand und wedelte damit zwischen mir und Eldastin in der Luft herum. »Um was auch immer es gerade geht, ihr könnt das später klären. Jetzt müssen wir uns um Bruin kümmern.«
Ich straffte die Schultern und verdrängte die Gedanken an meinen Vater.
»Und falls ihr das hier für einen Tempel haltet«, fuhr Ludvik fort, »werdet ihr gleich ziemlich enttäuscht sein.«
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ALBENBLUT
FantasySeit dem Großen Sturz wird die Welt der Menschen von Ober- und Niederlingen bevölkert, die sich gegenseitig bekriegen. Inmitten dieser Spannungen hat Albenprinzessin und Halbblut Alina ihre Heimat verlassen, um ihrer Hochzeit mit dem reinblütigen E...