Berlin, 08. Mai. 2019
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Reflexartig riss ich die Augen auf, als ich mein Badezimmer verließ und dabei fast gegen Vincent prallte. „Guten Morgen", grinste mich mein bester Freund an. „Vincent!", schrie ich erschrocken auf. Mir schlug das Herz bis zum Hals. „Sollte es vorher noch nicht der Fall gewesen sein, werden Deine Nachbarn spätestens jetzt denken, dass wir eine heiße und leidenschaftliche Liebesbeziehung führen." Er bekam das Grinsen gar nicht mehr aus dem Gesicht. Verständnislos starrte ich ihn an. „Was machst Du hier?" Nur diese Frage brannte mir unter den Nägeln. Seinen Scherz ließ ich unkommentiert. „Das ist eine interessante Geschichte. Pass auf, die muss ich Dir erzählen. Es hat sich folgendermaßen zugetragen. Ich saß am Frühstückstisch und plötzlich hörte ich ein leises wimmern. Es dauerte nicht lange, bis ich die Geräuschquelle lokalisiert hatte." Er griff in seine Hosentasche, zog seinen Schlüsselbund heraus und tippte gegen einen Schlüssel. Ich erkannte diesen sofort. Es war der ‚Zweitschlüssel' zu meiner Wohnung. „Hier haben wir den Übeltäter. Richtiger Quälgeist", führte er seine ‚Erklärung' fort. „Dieser Schlüssel hatte es wirklich nötig und wollte einfach mal wieder richtig benutzt werden. Und jetzt schau' ihn Dir an! Hast Du je einen glücklicheren Schlüssel gesehen?"
Mittlerweile hatte sich mein Herzschlag wieder normalisiert. „Es scheint mir, als hättest Du eine Therapie nötiger", kam es lediglich über meine Lippen. „Absolut! Dann würden die Zeilen ‚Ja hallo wir sind zurück, deine Lieblingsband, die mit Zwangsjacke schreiend aus der Klinik rennt.' endlich auf Wahrheit beruhen." Ich konnte nur mit dem Kopf schütteln. „Verrätst Du mir irgendwann den wahren Grund Deines Besuchs?" Ich warf ihm einen fragenden Blick zu, ehe ich mich an ihm vorbei schob. Als ich mich der Küche näherte, runzelte ich irritiert die Stirn. Es roch nach Kaffee. Litt ich nun auch schon an Wahnvorstellungen? Ich wollte das Wohnzimmer anpeilen, um mich da auf die Couch zu fläzen, doch legte Vince seine Hand auf meine Schulter und zog mich ein Stück zurück. „Ich habe uns Kaffee gekocht und Frühstück mitgebracht." Überrascht drehte ich mich zu ihm um. Er lächelte nur schief und schob mich durch die Tür. Bestimmt drückte er mich auf den Stuhl am Küchentisch und setzte sich mir gegenüber. Vor mir stand meine Lieblingstasse, in welcher sich die dampfende Flüssigkeit befand und ein Teller, auf welchem ein belegtes Brötchen lag. „Jetzt stärken wir uns erstmal, denn wir haben heute einiges vor."
Hatte ich etwa einen Termin vergessen? „Haben wir?" Vincent beließ es bei einer nonverbalen Antwort und nickte mir einfach nur zu. Daraufhin biss er genüsslich in sein Brötchen. Während ich ein Schluck Kaffee trank, grübelte ich über seine Worte nach. „In zwei Minuten dampft dein Kopf mehr, als der Kaffee", frotzelte mein Kumpel. „Ich fahre Dich zum Arzt", schob er hinter, dieses Mal etwas ernster. „Bitte?" Eine Augenbraue schoss in die Höhe. „Warum? Meinem Knie geht es schon viel besser", versicherte ich ihm. „Nicht deswegen." Verwirrung kroch über mein Gesicht. „Du hast mir gestern gesagt, dass Du schon die ersten Kontaktformulare ausgefüllt hast, richtig?" Ich nickte. „Und Du hast noch keine Überweisung, richtig?" Erneutes Nicken meinerseits. Langsam verstand ich. „Vinne... Das hat noch Zeit und ich habe auch keine Lust mich stundenlang in ein Wartezimmer zu setzen." Ich hatte keine Lust meine Wohnung zu verlassen. Eigentlich wollte ich mich einfach nur in meinem Bett verkriechen.„Musst Du nicht. Ich habe bereits einen Termin für Dich gemacht." Bitte was? Sein Blick sagte alles. Ich kannte ihn lange genug, um zu wissen, dass er sich wirklich um einen Termin gekümmert hatte. „Warum?" Sehr geistreich. „Ich wollte sichergehen, dass Du alles beisammenhast", zuckte er mit den Schultern und aß sein Brötchen auf. „Und wenn wir schon einmal dort sind, kann sich der Arzt auch Dein Knie ansehen." „Praktisch", kommentierte ich Wortkarg und trank noch einen Schluck. „Du hast eine halbe Stunde Zeit um aufzuessen und Dich fertigzumachen. Dann müssen wir los." Eine halbe Stunde? Wie stellte er sich das vor? „Wir?" Erneut nickte Vincent. „Ich bin Dein persönlicher Chauffeur. Die Rechnung flattert Dir am Ende des Jahres ins Haus. Nur als kleine Zwischeninformation, damit Du Dich drauf einstellen kannst." Schwach zuckte mein Mundwinkel auf. „Musst Du nicht ins Studio?" Verneinend schüttelte er mit dem Kopf. „Erst am Abend. Willst Du Deine Zeit verquatschen oder doch lieber aufessen?" „Durch die Schmerzmittel, habe ich gar nicht so den großen Hunger." Mein Gegenüber musterte mich. Sein Blick verdeutlichte mir, dass er mir kein Wort abkaufte. Einer der Nachteile, wenn man sich so gut kennt.
„Das lasse ich jetzt so stehen. Geh Dich fertigmachen. Ich räume in der Zwischenzeit den Tisch ab." Unschlüssig stand ich auf und schlich aus der Küche. Warum hatte ich ihn angelogen? Urplötzlich fühlte ich mich richtig schlecht. Vincent machte alles möglich und ich? Ich bin ein schrecklicher Freund. Von diesen Gedanken getrieben, ging ich ins Schlafzimmer. Es war ein zweitwendiger Kraftakt. Ich fühlte mich kaputt. Dabei hatte ich bloß ein Shirt, eine kurze Hose und Boxershorts aus den Schränken gesammelt und mich umgezogen. Erschöpft schnaufte ich und setzte mich aufs Bett, streckte mein Bein leicht aus. Auch wenn die Schwellung und vor allem die Schmerzen zurückgegangen waren, waren diese nicht komplett verschwunden. „Brauchst Du etwas?" Langsam hob ich meinen Kopf der Stimme entgegen. Vincent lehnte im offenen Türrahmen, hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sah mich besorgt an.
„Eine Schmerztablette und ein Joint und dann passt das schon wieder", versicherte ich ihm und stand langsam vom Bett auf. „Wir können los..." Schnell. Sonst würde ich mich doch noch dagegen entscheiden. Zusammen verließen wir die Wohnung und ich schloss ab. „Brauchst Du Hilfe bei den Stufen?" Verneinend schüttelte ich den Kopf. Es dauerte zwar länger, doch kam ich die Stufen gut runter, besser als gestern. Wir steuerten sein Auto an und ich ließ mich auf den Beifahrersatz fallen, streckte das Bein aus und schnallte mich an. „Hast Du alles?" Ich nickte ihm zu. Während Vince das Auto durch die dichtbefahrenen Straßen fädelte, baute ich mir eine Tüte. „Du kennst die Regeln", mahnte mein Kumpel mich an. Ich nickte nur, ließ das Fenster runter und blies den Rauch raus. Schweigend verlief die Fahrt, im Hintergrund dudelte Musik und lauer Wind schlug mir ins Gesicht. Es war angenehm.
„Wir liegen sehr gut in der Zeit." Das Grinsen schwang deutlich in seinen Worten mit. Trotzdem drehte ich meinen Kopf zu ihm. „So wie ich Dich kenne, hast Du alles ganz genau ausgerechnet und jede Ampel einkalkuliert, wa?" Er rollte mit den Augen. Ein kleines Grinsen legte sich auf meinen Lippen ab. „Kannst Du ruhig zugeben. Es wird Dich keiner verurteilen." „Vollidiot", konterte er und schnallte sich ab. Ich tat es ihm gleich und stieg aus. Tief atmete ich durch und blickte zu dem Gebäude hoch. „Muss das wirklich sein? Dass mit der Überweisung hat doch wirklich noch Zeit." Auch wenn ich wusste, dass es eine dringliche Angelegenheit war. Reiß Dich zusammen, mahnte ich mich gedanklich an.
„Jaja. Ich komme ja schon." Vincents Mundwinkel zuckten. Schon als ich es ausgesprochen hatte, wusste ich, was als nächstes kommen würde. Und mein bester Freund enttäuschte mich nicht. „Jaja heißt, ‚Leck mich am Arsch!'", sang er inbrünstig und störte sich nicht an den schrägen Blicken, die er zugeworfen bekam. „Manchmal heißt jaja, ‚Halt dein Maul'", konterte ich singend. „Manchmal heißt jaja, ‚Fick Dich'" Wir sahen einander an und grinsten einander an. Er klopfte mir auf die Schulter und betraten zusammen die Praxis meines Arztes. Am Empfang mussten wir, glücklicherweise, nicht zu lange warten. Wenige Minuten später, konnten wir schon das Wartezimmer betreten. Dieses war nicht proppenvoll, dennoch waren die meisten Plätze belegt. Wir fanden noch zwei leere, nebeneinanderliegende Stühle, und setzten uns.
Vincent zog sein Handy aus der Hosentasche und warf ein Blick auf dieses. „Du kannst auch gehen. Mittlerweile schaffe ich es bis zur Bahn. Zur Not rufe ich mir ein Taxi", flüsterte ich ihm zu. „Dickerchen. Ich habe keine Termine. Heute ist Vincent und Dag Zeit." Ich zog eine Augenbraue in die Höhe. „Die beginnt aber anders als gewöhnlich." Er stieß mich mit den Ellenbogen an und grinste. „Ein bisschen Schwung und Veränderung hat noch keiner Beziehung geschadet." Er sprach leise genug, dass nur ich es verstehen konnte. Schmunzelnd rollte ich mit den Augen. „Idiot", murmelte ich leise und lehnte mich zurück. Mein Blick wanderte durch das Wartezimmer. Ein Patient wurde aufgerufen, erhob sich und ging in das Sprechzimmer. Ein kleines Mädchen betrat das Wartezimmer, dabei hielt sie die Hand einer Frau, vermutlich ihrer Mutter. So erstreckte es sich über einen gewissen Zeitraum. Leute kamen und gingen. „Herr Kopplin?!" Überrascht zuckte ich zusammen.Vincent klopfte mir auf den Oberschenkel. „Du packst das", flüsterte er mir zu und sah mich aufmunternd an. Langsam erhob ich mich, stand auf und ging dem Arzt entgegen, welcher mir die Hand entgegenstreckte. Ich schüttelte diese. Als ich merkte, dass mir Vincent nicht folgte, drehte ich mich zu ihm um. „Kommst Du?" Es handelte sich fast schon um ein leises Flehen. Überrascht sah er mich an, sprang sofort vom Stuhl auf und folgte mir. Seine Hand legte er auf meine Schulter und drückte diese. Es war eine ‚Ich bin da' Geste. Genau das brauchte ich, denn ich wusste, dass mir dieses Gespräch all meine Kraft rauben wird.
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Du bist wie ich, dich gibt's nur einmal ... oder? | A SDP Fanfiction
Fanfiction► Denn Leben passiert, während wir Pläne schmieden. | Sie halten sich für 'unbesiegbar' - bis sie mit der brutalen Realität konfrontiert werden. Dags Gesundheitszustand verschlechtert sich rapide. Er quält sich durch die langen Stunden des Tages und...