Die Zwischenstädtischen Gebiete

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„Anna? Hey. Bandowski. Wach auf."

Henrys Stimme holte das Mädchen langsam zurück.

Das Erste, was Anna auffiel, waren die Kopfschmerzen. Ihre Stirn pochte. Sie kriegte keine Luft, der Gurt drückte auf ihre Atemwege. Durch die scheibenlosen Fenster vor sich sah sie Baumwipfel und ab und zu dunkle Wolkenfetzen. Es dauerte eine Sekunde, bis sie sich erinnerte, was vorgefallen war. Das Flugzeug. Sie waren in den Zwischenstädtischen Gebieten.

„Henry?" Selbst den Kopf zu drehen, verlangte ungeheure Kräfte, die Anna eigentlich nicht mehr hatte.

Der Pirat hatte seinen Gurt gelöst und sich zu ihr herüber gelehnt. Er hatte einen Schnitt an der Schulter, der stark blutete. Henry legte eine Hand an Annas Kopf und sah sie an. „Alles klar?", fragte er leise.

Anna schluckte. „Ich glaube schon ... Mein Kopf ..."

Henry musterte ihre Wunde. „Sieht übel aus." Er lächelte. „Spaß. Komm, wir müssen hier weg." Henry löste ihren Gurt. „Sie werden nach dem Flugzeug suchen."

„Oh Gott, wir leben." Sie jubelte leise. „Na, wer ist jetzt die beste Pilotin der Einheit, Natascha Turnmann?"

Henry hob eine Augenbraue. „Du sicher nicht, Fräulein."

Sie seufzte und bewegte langsam ihre Beine. Alles schmerzte. „Wie weit ist es bis zum Boden?", fragte sie erschöpft.

Henry stellte sich auf die Rückenlehne seines Sitzes – das ganze Flugzeug wackelte gefährlich – und lehnte sich aus dem Fenster, um nach unten zu sehen. „Weit." Er lächelte Anna an und reichte ihr eine Hand. „Aufstehen, Bandowski."

Anna ließ sich von ihm hochziehen. Nach kurzem Zögern griff sie noch einmal unter ihren Sitz und zog den Notfallrucksack mit dem Erste-Hilfe-Zeug hervor, welcher dort von den Piratenjägern aufbewahrt wurde. Gemeinsam klettern sie aus dem Flugzeug auf einen großen Ast daneben. Der Boden war nicht zu sehen. Sie begannen zu klettern.

Schon nach wenigen Minuten zitterten Annas Arme, ihre Hände rissen auf und die Tatsache, dass sie nur noch einen Schuh hatte, war auch nicht gerade hilfreich.

„Können wir eine kurze Pause machen?", bat Anna irgendwann und lehnte sich an einen dicken Baumstamm.

Henry nahm einen Zug von seinem Asthmaspray. Die Wunde an seiner Schulter hatte beinahe den gesamten rechten Ärmel rotgefärbt. „Wir müssen die Wunde nähen", sagte Anna mit kratziger Stimme. Sie legte eine Hand an ihre Stirn. „Und wir brauchen Trinkwasser. Und Essen. Und Medikamente, die Sachen aus dem Flugzeug werden wohl kaum lange reichen und –"

„Wir müssen erstmal den Boden erreichen." Henry rieb sich müde den Nacken. „Dann kümmern wir uns um alles."

Anna nickte langsam. „Wer hat die Bombe gezündet?"

„Anna, ich werde dir alles erzählen", versicherte er erneut. „Aber wir müssen erstmal einen sicheren Ort finden."

Bald schon hatten sie schwarze Erde unter ihren Füßen. Es war kalt unter dem Dach aus Blättern und Ästen. Die Luft schmeckte kühl, seltsam sauber – ganz anders als in der Stadt. Es war still. Keine Tiere, kein Wind. Nur die Schritte der beiden waren zu hören.

„Was tun wir, wenn wir von den Hexen gefunden werden?", fragte Anna leise. Ihre Stimme schien jeden Zentimeter des Waldes zu füllen.

Mit den Zwischenstädtischen Gebieten verhielt es sich nämlich so: Alle Mythen, alle Gerüchte, alle Sagen und Märchen, die man sich in den Sechsundzwanzig Städten über sie erzählte, waren wahr. Die Geschichten von Hexen – naja, oder halt alten, verrückten Frauen –, die Kinder verspeisten. Legenden von Kannibalen-Clans. Sekten, die Städter opferten, um ihren erfundenen Gottheiten zu huldigen. Blutrünstige Wölfe, drogensüchtige Mörder, Diebe, Plünderer, Vergewaltiger und Mutanten. Und – natürlich – Piraten.

16521 Band 1: Der Pirat, der Bär und der RegenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt