Ihre Lungen drohten zu zerspringen, als sie die Halle des verlassenen Rathauses erreicht hatte. Die Leichen bedeckten den Boden und Bri musste sich einen Augenblick zusammennehmen, um nicht hysterisch los zu kreischen.
„Fross?", rief sie in die leere Halle hinein. „Irgendwer? Hallo!"
„Mein Gott, Bandowski, geht's vielleicht noch lauter?", fragte eine vertraute Stimme und Bri erblickte erleichtert Mona, die die Treppe hinuntergerannt kam und atemlos sagte: „Das Rathaus ist nur noch wenige Minuten per Verhandlung vor einem Sturm der Nordpiraten geschützt. Wir müssen hier raus!"
„Wo sind die anderen –"
Mona wies ihr an, still zu sein und ihr zu folgen. Nach einigen Minuten bemerkte Bri, dass Monas Weg sie geradewegs in die Gefängnishallen des Rathauses führte. Statt den Fahrstuhl zu nehmen rannten die beiden die Treppen hinunter, immer weiter in die Tiefe. Als sie einen Korridor entlangliefen, sah Bri allerhand aufgebrochene Zellen und tote Wachleute. Doch keine Menschenseele war zu sehen. Anscheinend waren alle gefangene Piraten und Zwischenstädter bereits befreit worden. Die Stille war schneidend, nur der keuchende Atem der beiden Mädchen war zu hören.
Endlich blieb Mona stehen und klopfte an eine unscheinbare, aber unversehrte Zellentür.
Sie wurde umgehend geöffnet und Emil Fross musterte Briseis von Kopf bis Fuß. „Bist du verletzt?"
Bri schüttelte den Kopf, auch wenn sie sich sicher war, dass ihr Arm gebrochen war, doch sie verspürte keinerlei Schmerzen.
„Die anderen sind bei Levi Fitz–Becket", sagte Bri, als sie und Mona die Zelle betraten. Fross winkte wirsch ab.
„Das war der Plan, Briseis. Also nichts wie weg hier."
Bri sah sich die anderen in der Zelle an, die auf sie gewartet hatten. Ihr Herz machte einen freudigen, wenngleich auch schmerzhaften Satz, als sie Samuel und Oliver erblickte. Ein bleicher Charlie hielt ein Stofffetzen auf eine Wunde an Teddys Schulter gedrückt.
„Was ist passiert?", fragte Bri schockiert, während Emil Fross und ein unbekannter Piratenjäger eine versteckte Falltür öffneten.
„Hab einen Salto über einen Piraten gemacht und ihm im Flug das Genick gebrochen", brachte Teddy zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er versuchte zu lächeln, doch der Schmerz ließ das nicht zu. „Bester Stunt meiner Karriere, aber seine Freunde fanden das nicht so geil, Bri ..."
„Ruhig jetzt und rein da", fauchte Emil Fross.
Bri schaute die geschlossene Tür der Zelle an. Sie legte eine Hand an ihre Stirn. „Ich kann das nicht machen", keuchte sie. „Ich kann sie nicht einfach für mich sterben lassen –"
Emil Fross war in zwei Schritten bei ihr und stieß sie gegen die Wand, sodass jegliche Luft aus Bris Lungen gepresst wurde. Seine Augen huschten wild hin und her, während er sie ansah. „Wag es nicht, Briseis, ihr Opfer in den Dreck zu ziehen, indem du hier falsches Mitgefühl vortäuschst!", zischte er und verstärkte den Griff um ihre Arme.
Bri lachte ungläubig. „Wenn du deine beschissenen Freunde meinst: Nein, für die habe ich kein Mitgefühl übrig, denn jeder einzelne von euch hätte es verdient zu brennen, für das, was ihr meiner Familie angetan habt!", rief Bri zurück. „Aber ob du es glaubst oder nicht, meine Schwestern hätte ich gern noch ein paar Jahre länger gehabt!"
„Es geht hier nicht um –", brauste er auf, doch Bri unterbrach ihn.
„Scheiß auf das Paradies", fauchte Bri und wollte sich befreien, doch der letzte Präsident hielt sie weiterhin fest. Sie gab es auf und lachte ein bitteres, kehliges Lachen. „Ich habe mein ganzes Leben dafür geopfert und für die Städte – und nun stehe ich hier!"
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16521 Band 1: Der Pirat, der Bär und der Regen
JugendliteraturII Watty Award 2022 II Die Welt wurde zerstört durch Naturkatastrophen und Kriege, der letzte bewohnbare Kontinent ist Septentrio - ein Land, regiert von Hunger, Krankheiten und giftigem Regen. Um der Not zu entfliehen laufen immer mehr Menschen zu...