Das Leben der Briseis Bandowski

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Henrys Brust fühlte sich an wie zugeschnürt. Er bekam keine Luft, sein Herz schlug zu schnell und es wurde furchtbar heiß in ihrem Versteck. Er konnte nichts weiter tun, als das Mädchen neben sich anzustarren. Sie legte eine Hand an ihre Stirn, blickte schockiert ins Nichts.

Es stimmt, fuhr es ihm durch den Kopf. Es ist wirklich wahr.

„Wie meinen Sie das?", fragte Selma mit gespieltem Desinteresse. „Und was hat das bitteschön mit unserem Haus zu tun?" Jetzt klang sie wütend.

Der Piratenjäger aus dem Rat der Sechsundzwanzig Städte stand auf und warf den Apfelbutzen achtlos in die Ecke. „Die Familie Bandowski sollte Ihnen eigentlich gut bekannt sein, Selma und Fritz Schulz."

Die Unterlippe des Mädchens begann zu zittern. „Sie wissen es", hauchte sie kaum hörbar. „So eine ... oh Gott."

„Sie haben die Familie Bandowski über viele Jahre in diesem Haus versteckt", sprach der Piratenjäger weiter.

„Wir wissen nicht, wovon Sie reden", sagte Fritz erbost. „Wir wollen mit all dem nichts zu tun haben!"

Der Piratenjäger lächelte. Doch dieses Lächeln wirkte so falsch, dass es beinahe schmerzhaft war, ihn dabei anzusehen. „Sparen Sie sich das", sagte er mit beinahe freundlicher Stimme. „Wir wissen es. Briseis Bandowski ist nicht tot und es besteht Grund zu der Annahme, dass sie hier ist."

„Und wie zur Hölle kommen sie darauf, verdammt noch eins?" Es wurde wohl ernst. Henry hatte Selma Schulz bisher kein einziges Mal fluchen hören.

„Vor zwölf Jahren wurde ein Mädchen getötet, das behauptete, Briseis Bandowski zu sein." Der Mann beugte sich auf dem Sessel vor. „Doch wie wir heute wissen, war es nicht Briseis, die von den Piraten zu Tode gefoltert wurde. Es war ihre große Schwester Anna."

Henry konnte Selma und Fritz nicht sehen, doch die Stille sprach für sich.

„Briseis Bandowski hat Annas Namen angenommen, floh mit ihrem Vater und ihren Schwestern hierher. Vor vier Jahren ging sie dann nach Foxtrot, wägte sich in Sicherheit – so uninteressant wie sie ja für alle schien. Doch jetzt ist es raus. Sie ist Briseis Bandowski."

Henry drehte langsam den Kopf zu dem Mädchen um, das ihn flehend und voller Verzweiflung ansah. Sie ergriff zögerlich seine Hand. Die Geste wirkte wie eine stumme Bitte, wie ein verzweifelter Hilferuf.

„Und woher wollen Sie das wissen?", fragte Selma. Ihre Stimme klang seltsam erstickt.

Der Piratenjäger legte den Kopf schräg und lächelte. „Ihre Schwestern haben es mir verraten." Das Mädchen ließ den Kiefer fallen. „Helen und Mia Bandowski haben die wahre Identität ihrer Schwester preisgegeben. Damit die Zahlen – die großen Koordinaten nach Supra – nicht in die falschen Hände geraten."

„Was soll das bedeuten?"

Nun lehnte sich der Mann eindringlich nach vorne. „Das Mädchen muss uns die Zahlen sagen, bevor sie sie den Piraten verrät. Mit denen sie sich ja anscheinend gerne herumtreibt." Der Mann stand auf. „Sie werden uns sagen müssen, wo sie ist. Und leugnen Sie nichts. Helen und Mia sagen, dass Briseis Bandowski hier viele Jahre ihres Lebens verbracht hat. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sie hier ist."

Stille breitete sich aus, die alles andere als angenehm war.

„Es ist wahr, dass sie ... dass Augustin Bandowski und seine Töchter einige Jahre hier gelebt haben", gestand Selma mit belegter Stimme. „Aber wir ... sie haben uns das Mädchen als Anna vorgestellt, wir kannten die Familie vorher doch gar nicht. Wir glaubten, die Geschichte sei wahr ... dass Briseis Bandowski damals ermordet wurde", log Selma ruhig.

„Wieso haben Sie die Bandowskis aufgenommen, wenn Sie nicht mit Ihnen verwandt waren?", fragte der Piratenjäger geschäftsmäßig. Als führte er solche Verhöre tagtäglich.

„Augustin Bandowski war ein Freund unseres Sohnes. Samuel. Wir fühlten uns verpflichtet", sprach Fritz.

„Wie dem auch sei", sagte Selma. „Anna Bandowski – Briseis Bandowski – ist nicht hier. Wir haben keinen der Familie mehr gesehen, seit Jahren nicht."

Nach einer kurzen, nervenzerreißenden Pause nickte der Piratenjäger und stand auf. „Nun gut. Sie beide sowie ihr Sohn –"

„Enkelsohn", verbesserte Fritz mit angespannter Stimme. „Oliver ist unser Enkel."

„Hm. Sie alle werden angeklagt, Hilfe am Staatsverbrecher Augustin Bandowski geleistet zu haben." Er schaute Selma und Fritz kühl an. „Sie können sich auf ein kleines Familientreffen in den Wasserwerken freuen."

Henry zog das Mädchen zurück, als sie auf einmal einen Schritt nach vorn trat. Sie riss sich los, doch er gab nicht nach und zog sie unter dem Raum entlang zum Tunnel. „Nein", zischte sie.

Der Mann über ihnen sprang auf. „Was war das?"

Henry legte dem Mädchen eine Hand um den Mund und zog sie weiter den Tunnel entlang, bis sie nichts mehr sehen konnten.

„Nein, Henry, hör auf!", rief sie, als sie etwa die Hälfte geschafft hatten, doch er ließ sie nicht los. „Sie werden sie wegbringen! Ich muss –"

„Sei leise, Ann – Briseis oder wer auch immer du bist!" Henry sah sie verzweifelt an. „Du kannst ihnen nicht helfen, also geh weiter." Er zog sie bis ans Ende des Tunnels, wo sich eine weitere Falltür befand. Sie kletterten so schnell wie möglich hinauf. Sie befanden sich im Stall. Imo wartete auf sie.

Henry ging zu dem Pferd und stellte erleichtert fest, dass es bereits gesattelt war. „Steig auf." Er war noch nie auf einem Pferd geritten, doch wie schwer konnte das schon sein? „Verdammt, steig auf!", wiederholte er, als sie sich nicht rührte. Henry öffnete die Stalltüren. Er konnte das Haus der Schulz' nicht sehen. Doch sie hörten die Rufe. Rufe, die zu Schreien wurden. Sie rochen das Feuer.

„Ich muss –", begann das Mädchen, doch Henry unterbrach sie und stieg überraschend geschickt auf das Pferd.

„Wir können nichts machen." Er streckte ihr eine Hand entgegen. „Bitte, Briseis. Steig auf."

Sie sah ihn mit großen Augen an. Sie bekam kaum mit, wie sie sich auf das Pferd vor Henry setzte, die Zügel nahm und los ritt. Hinter ihnen schossen Flammen aus dem Haus hervor und fraßen es auf. Doch sie blieben nicht stehen.

Briseis traf es wie ein Blitz.

Anna Bandowski war tot. Ihre Schwester und die Anna, die sie all die Jahre dargestellt hatte, ebenfalls. Es war vorbei. Die Wahrheit drängte sich in jede Zelle ihres Körpers, nahm ihr jegliche Luft und Wärme.

Anna war tot.

16521 Band 1: Der Pirat, der Bär und der RegenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt