Annas Entscheidung

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Anna spürte, wie Arme sie von dem Rand der Klippe wegzogen. Sie schrie, schlug und trat um sich. Robin Fitz–Beckets Stimme erreichte sie nur aus der Ferne, als er ausdruckslos sagte: „Kümmere dich um sie, Richard."

Sie versuchte sich loszureißen, doch der Pirat hielt sie festumklammert während Robin, der Mörder seines Bruders, mit seinen Leuten im Wald verschwand. „Nein, bitte!", schrie Anna und versuchte, ihre letzten verbliebenen Kräfte gegen Richard zu verwenden. Sie trat ihm gegen das Schienenbein und sie fielen auf den kalten Felsen. Der Wind schlug immer heftiger um sie. Anna konnte kaum noch etwas hören.

Mit zusammengebissenen Zähnen kroch sie zum Rand der Klippe. Eine Hand umschloss ihren Knöchel. Panisch drehte sie sich zu dem Mann um, der eine Hand mit einem langen, scharfen Messer anhob. Mit einem Ruck ließ er das Messer auf ihr Gesicht niedersausen, Anna konnte sich gerade noch so zur Seite drehen.

Plötzlich sprang etwas aus dem Wald hervor und stürzte sich auf den überraschten Richard. Anna kroch so nah an den Abgrund, wie es ihr möglich war, und sah schockiert den Bären an, der den Piraten mit wütendem Gebrüll zerfleischte.

„Imo", flüsterte sie, als das Tier mit blutverschmierter Schnauze von der Leiche abließ und sich vor das Mädchen legte. Jegliche Boshaftigkeit war aus seinem Blick gewichen. Als Imo den Kopf auf ihrem Schoß bettete, wirkte er wieder wie das freundlichste Wesen der Welt.

Anna vergrub ihr Gesicht in dem blutverschmierten Fell des Bären. Nur den Bruchteil einer Sekunde lang gönnte sie sich diesen Augenblick der Ruhe. Ihr Blick wanderte zum Wald. Dann langsam in die tosenden Wellen hinunter. Henry war nirgends zu sehen.

Sie hätte einfach gehen können. War sie diesem Jungen irgendetwas schuldig?

Anna fluchte, stand auf und rief über die Schulter hinweg: „Such uns, Imo."

Dann sprang sie hinab in die Fluten.

Das dunkle Wasser umspülte sie kälter als je zuvor. Wellen brachen über ihr zusammen und nahmen ihr die Sicht. Sie tauchte unter und versuchte, irgendetwas zu erkennen, suchte irgendein Lebenszeichen von Henry. Panik ergriff sie, während sie sich nach ihm umsah. Kurz bevor sie der erdrückenden Wahrheit ins Gesicht sehen wollte, nämlich, dass Henry einfach nur tot war, streifte etwas ihr Bein. Voller Hoffnung tauchte sie ein weiteres Mal unter und bekam eine eiskalte Hand zu fassen.

Sie konnte es kaum glauben, als sie den reglosen Henry an die Oberfläche zog. „Henry", hustete Anna und zog ihn in Richtung Strand. „Gleich geschafft."

Als sie den Strand endlich erreichten, war Anna am Ende ihrer Kräfte. Sie zog Henry aus den kalten Wellen und weg von dem Wasser. Sie beugte sich über ihn und legte ein Ohr an seinen Mund, sodass sie gleichzeitig seinen Brustkorb im Blick hatte.

Er atmete nicht. Aus der Schusswunde an seiner Seite floss leuchtend rotes Blut auf die Steine unter ihnen.

Dann wäre das jetzt wohl der Moment, zu verschwinden.

„Henry, bitte, komm schon", murmelte Anna und legte eine Hand an seine kalte Wange.

Geh einfach. Verschwinde und rette dich selbst.

Sie ballte ihre Hände zusammen und begann, mit voller Wucht auf seine Brust zu drücken, immer und immer wieder. Nach dreißig Stößen legte sie seinen Kopf zurück und pustete Luft in seine Lunge. Nichts geschah. Anna begann von vorne, während ihre Arme vor Anstrengung zitterten. Er rührte sich nicht.

Die Minuten verstrichen.

Es ist vorbei, Anna, sagte eine Stimme in ihr. Selbst wenn der Schuss ihn nicht umgebracht hat, so war er doch viel zu lange unter Wasser. Gib es auf, es ist vorbei. Der Pirat ist tot. Gib auf, Anna.

16521 Band 1: Der Pirat, der Bär und der RegenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt