Imo

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Anna spürte den kalten Lauf einer Pistole an ihrem Hinterkopf. „Nimm sofort die Waffe runter."

„Henry?", entfuhr es Anna fassungslos, ohne dass sie den großen Bären aus den Augen lassen konnte, der sich desinteressiert die Pfoten leckte. „Was tust du da? Das ist ein Bär!", sagte sie eindringlich.

„Nimm die –"

„Was soll das hier?", fauchte Anna. „Ich helfe dir und jetzt erschießt du mich?"

„Ich will dich nicht erschießen", erklärte Henry ruhig. „Nimm einfach nur die Waffe runter."

„Schon gut", sagte Anna und mit einem dumpfen Aufprall fiel der Revolver zu Boden. Sie hob die Hände, während Henry um sie herum ging, ohne die Waffe zu senken. „Was wird das?", fragte sie herausfordernd.

„Das sollte ich dich fragen. Warum wolltest du Imo erschießen?"

Sie starrten sich einen Augenblick schweigend an. „Wer zum Teufel ist Imo?", fragte Anna schließlich voller Verachtung in der Stimme und ließ die Arme sinken.

„Imo." Der Pirat legte den Kopf schräg. „Mein Bär." Er nickte über die Schulter zu dem großen Ungetüm, das auf dem Boden saß und versuchte, Gras zu fressen.

Anna hob eine Braue. „D-dein ... dein Bär?" Sie nickte. „Okay", sagte sie langsam und hob behutsam eine Hand. „Du – du bist anscheinend durcheinander ..."

Auf Henrys Gesicht machte sich ein Grinsen breit. „Durcheinander?" Er drehte sich zu dem Bären um, ohne jedoch die Waffe sinken zu lassen. „Imo, sie hält uns für verrückt." Zum ersten Mal blickte das Monstrum auf und starrte Anna direkt ins Gesicht.

„Was tust du da?", flüsterte Anna erschrocken. „Er wird uns umbringen!"

Der Junge lachte und wandte sich wieder Anna zu. „Also?", fragte er mit schräggelegtem Kopf.

Anna sah ihn verzweifelt an. „Was? Könnest du wohl freundlicherweise die Waffe aus meinem Gesicht nehmen?"

Henry ließ seinen Arm tatsächlich sinken und bedachte Anna mit einem abschätzenden Blick. Schließlich seufzte er.

Anna nutzte den Moment, rammte ihm ihren Ellenbogen ins Gesicht und wollte ihm die Waffe aus der Hand reißen. Doch er war schneller, stieß sie gegen einen Baum, entsicherte die Pistole und drückte sie gegen ihre Schläfe. Schweratmend sahen sie einander an. Die Sekunden verstrichen.

„Ich werde dich umbringen", sagte Anna schließlich. Leider schaffte sie es nicht, sonderlich überzeugend zu klingen.

Henry wandte lachend seinen Kopf zur Seite. „Du bist echt ziemlich stressig, Anna."

Anna schnaubte. „Das ist nur die Spitze des Eisbergs, glaub mir."

Henry nickte. „Das glaube ich gern. Also, Anna, wenn ich dich loslasse ... kannst du mir versprechen, mich nicht mehr anzugreifen?"

Sie hob ihre Augenbrauen. „Das wird sich herausstellen." Henry lachte und trat einen Schritt zurück. Anna rieb sich ihr Handgelenk und fragte wütend: „Was soll das?"

„Was sollte was?"

„Wieso greifst du mich aus heiterem Himmel an?", fragte sie voller Wut. „Wieso hältst du dich nicht an die Abmachung? Ohne mich wärst du noch immer –"

„Konnte ich wissen, dass du so gerne auf Bärenjagd gehst, Anna?", unterbrach Henry sie ruhig.

„Dann ... gehört der Bär also wirklich zu dir?", fragte sie zögerlich, wenig überzeugt von Henrys geistigem Zustand.

16521 Band 1: Der Pirat, der Bär und der RegenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt