Das Foto

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Gebadet, satt und von wohliger Wärme umgeben saß Anna auf einem Sessel im Wohnzimmer und trank Tee. Fritz hatte den alten Plattenspieler angeschmissen und aus den Lautsprechern erklang ein großes Orchester. Selma legte am Tisch der Gebete Wäsche zusammen und Oliver kümmerte sich draußen um die Kühe. Es war ein schöner Moment. Dank Selma war er aber leider nur von kurzer Dauer.

„Jetzt, wo du wieder bei uns wohnst, brauchen wir mehr Wasser", überlegte Selma plötzlich laut.

Anna schüttelte vorsichtig den Kopf. „Selma. Ich werde nicht hierbleiben."

Sie ließ ihre Hände sinken. „Wie?"

„Ich muss nach November", erinnerte Anna ihre Tante. „Zu Helen und Mia. Ich muss ihnen erzählen, was Elsa Li und Lucius Fitz–Becket vorhaben. Und dann werden sie mich begnadigen." Anna zuckte die Schultern. „Henry wird mich bis ans Meer begleiten und dann –"

„Nein."

Anna blickte ihre Tante fragend an. „Was Nein?"

„Nein. Du verlässt dieses Anwesen nicht mehr."

Anna zog die Brauen hoch. „Ich wüsste nicht, um Erlaubnis gebeten zu haben."

„Was ist bloß aus dir geworden?", fragte Selma zutiefst erschüttert.

Mit der Nase in seinem Buch sagte Fritz uninteressiert: „Sie hat eine Persönlichkeit entwickelt, Selma."

„Keine Sorge", schnaubte Anna. „Die gefällt den meisten nicht, du bist nicht allein, Tantchen."

„Nein, ich lasse das nicht zu", sagte Selma wütend und stand auf. „Dein ganzes Leben lang haben die Leute dafür gesorgt, dass du in Sicherheit bist – sie sind für dich gestorben!"

Anna hob warnend eine Hand. „Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du die Liste an Namen dieses eine Mal für dich behalten könntest."

„Deinetwegen –"

„Dann gibst du mir die Schuld?" Annas Lippe zitterte. „Glaubst du etwa, ich wollte dass Benjamin Paas mir –"

„Ist das Gustav Mahler?"

Alle Anwesenden fuhren herum. Henry stand in der Tür, seinen linken Arm vom rechten umschlossen, um keine schmerzhaften Bewegungen zu machen. Anscheinend hatte Oliver ihm Klamotten gegeben. Und obwohl er sich gerade von einer Schussverletzung erholte, fiel es Anna schwer, ihn nicht regelrecht anzustarren – die leichten Augenringe und die Bettfrisur standen ihm hervorragend.

Fritz legte das Buch zur Seite und schob seine Brille zurecht. „Du kennst Gustav Mahler?", fragte er interessiert.

Henry nickte. „Die zweite Sinfonie in c-Moll, sie ..." Er grinste Anna an. „Sie hat mein Leben verändert." Wie erwartet hob Anna eine Braue, sagte aber nichts.

„Bettruhe würde Ihnen jetzt sicherlich besser tun als ein Plausch über Musik", sagte Selma kalt.

„Selma, bitte!", sagte Fritz schockiert. Kopfschüttelnd wandte er sich wieder Henry zu. „Ich kann dir nur zustimmen. Die Auferstehungssinfonie ist ..."

„Der Text, er ..."

Fritz schloss genüsslich die Augen. „Und dann der letzte Satz, es ..."

„Wenn nicht gleich einer von euch ein Adjektiv raushaut", warnte Anna, „werde ich eine Vase kaputtmachen müssen, um nicht an unterdrückter Aggression zu ersticken."

„Das ist die Musik, zu der ich sterben möchte", schloss Henry mit einem Lächeln.

Hör auf vom Sterben zu reden, dachte Anna unbehaglich.

16521 Band 1: Der Pirat, der Bär und der RegenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt