Es war später Nachmittag und Anna konnte kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen. Von Henry ganz zu schweigen. Die Wunde des Piraten hörte einfach nicht auf zu bluten. Sie kamen nur langsam voran.
Einmal kamen sie an einem Haus vorbei, wo eindeutig Leute wohnten, doch sie schlossen einfach Fenster und Türen und taten so, als wäre niemand daheim, als Anna um Hilfe rief. Also gingen die drei weiter durch die dichten Wälder der Zwischenstädtischen Gebiete. Mehr als einmal mussten sie anhalten. Henrys Zustand verschlechterte sich von Minute zu Minute.
Und Anna wusste jetzt auch, was ihre Crux mit dem Helfen war: Sie konnte es einfach nicht. Ihr ganzes Leben lang hatten ihre Verwandten sie beschützt und für sie besorgt. Sie selbst hatte sich nie für irgendwen anders einsetzen müssen. Der einzige Mensch, der Anna je um Hilfe gebeten hatte, war Nick gewesen, der wegen Hochverrates hingerichtet worden war. Hätte sie ihm geholfen, wäre er vielleicht – nein, dann wäre er noch am Leben. In gewisser Weise spornte das Anna an, weiter zu machen: Nick war tot, weil Anna Bandowski lieber die Hilfe anderer in Anspruch nahm, anstatt selbst zu helfen – Henry sollte diese Unfähigkeit nicht auch noch ins Grab bringen.
„Wir sind gleich da", sagte Anna erleichtert, als sie das Dorf am Fuß des Hügels ausmachte. Obwohl die Bezeichnung Dorf mehr als nur übertrieben war. Es waren nur fünf Häuser und ein Brunnen, an dem sich ein paar Gestalten tummelten. Als sie näher kamen, erkannte Anna deutlicher, was da unten vor sich ging.
Es war eine Schlägerei.
„Oh Scheiße", fauchte Anna warnend, als sie erkannte, auf wen da eingedroschen wurde. Sie setzte Henry ins Gras, der stöhnend zur Seite kippte, und rannte zum Brunnen.
Ein Junge hatte sich auf dem Boden zusammengekauert, vier Bauerngehilfen standen um ihn herum und traten auf ihn ein. „Steh schon auf!", rief einer und die anderen lachten. „Na los, Idiot, steh auf und wehr' dich –"
„Hey, Arschloch", sagte Anna und ging zielstrebig auf den jungen Mann zu.
Die Jungen lachten. „Was willst du, Kleine?", grinste der älteste der Gruppe.
Anna blieb direkt vor ihm stehen und sah ihn an.
Er musterte sie. „Ey, du bist doch die Kleine von den Schulz', oder?"
„Wer ist das?", fragte ein jüngerer verwirrt.
„Die Schwester oder Cousine oder was weiß ich von der Missgeburt hier." Der älteste spuckte auf den Jungen am Boden, der sich noch weiter zusammenkauerte. „Wer hätte gedacht, dass aus dir mal so 'n hübsches Mädchen wird?"
Anna starrte ihn weiter an.
„Ich mache dir einen Vorschlag, Süße." Er grinste mit schiefen Zähnen. „Wenn wir mit deinem spastischen Bruder hier fertig sind, gehen wir beide dahinten in die Scheune und –"
Anna holte aus und trat ihm gegens Knie. Er sank keuchend zusammen, Anna zog ihre Pistole in einer beinahe gemächlichen Bewegung und setzte sie an seine Stirn. „Fass ihn noch einmal an", sagte sie leise, „und ich bringe dich um."
Er starrte sie an. „Was fällt dir eigentlich ein –"
Auf einmal sprang Imo neben Anna hervor und brüllte den Jungen an.
Anna lächelte. Sollte Henry draufgehen würde sie Imo definitiv behalten. „Ihr lasst ihn zufrieden. Habt ihr das verstanden?", fragte Anna und entsicherte die Pistole. Der Typ sah aus, als würde er sich gleich übergeben. „Oder wollt ihr, dass mein ... bestialischer Freund hier es euch nochmal erklärt?"
Der Junge starrte den Bären an. „V-Verstanden."
„Verschwindet."
Die jungen Männer sahen Anna und Imo noch einmal ehrfürchtig an, dann liefen sie schon davon. Anna sah ihnen mit zusammengebissenen Zähnen nach. Dann steckte sie ihre Pistole weg und kniete sie sich zu dem Jungen am Boden. Er hatte sich ganz klein gemacht und die Arme um seinen Kopf gelegt. Ich hätte sie umbringen sollen, fuhr es Anna durch den Kopf.
DU LIEST GERADE
16521 Band 1: Der Pirat, der Bär und der Regen
Teen FictionII Watty Award 2022 II Die Welt wurde zerstört durch Naturkatastrophen und Kriege, der letzte bewohnbare Kontinent ist Septentrio - ein Land, regiert von Hunger, Krankheiten und giftigem Regen. Um der Not zu entfliehen laufen immer mehr Menschen zu...