Ich hatte tatsächlich nicht vorgehabt, zu lauschen. Es hatte sich einfach so ergeben. Nun gut, womöglich war ich auch extra lange neben Jones' Büro stehen geblieben, als ich hörte, wie sich er und Professor Morgan ein hitziges Wortgefecht lieferten.
Erst schien es nur um die Sache mit Harry zu gehen, dann sprach Professor Morgan jedoch - zu meiner Überraschung - noch etwas anderes an.
"William, es sind Beschwerden über dich laut geworden! Den Schülern gefällt es nicht, was du so von dir gibst - und mir ehrlich gesagt auch nicht"
Jones schnaubte.
"Ach, und warum gefällt es dir nicht? Weil ich die Wahrheit verbreite, vor der du dich so sorgsam verschließen willst?!", zischte er etwas leiser.
"Du spornst die Schüler zu einem Hass gegenüber unserem natürlichen System an", erwiderte Professor Morgan erzürnt.
"Ich?!", wiederholte Jones. "Das schafft das System aktuell schon von ganz alleine...!"
Ein angespanntes Schweigen erfüllte den Raum und ich drückte mich näher an die Wand, falls einer der beiden gleich aus dem Büro stürmen würde.
"William."
Professor Morgans Stimme klang nun weniger hart.
"Ich weiß doch selber, dass gerade einige Dinge nicht so laufen, wie sie sollten. Aber man erwartet nun einmal von uns neutral und unparteiisch zu sein..."
"Unparteiisch?", unterbrach sie Jones sarkastisch. "Man erwartet, dass wir auf der Seite der Herrscherfamilie sind!"
Wieder eine kurze Stille.
"Ich kann nicht dulden, dass du weiter so etwas in deinem Geschichtsunterricht erzählst, William. Zu deinem eigenen Schutz solltest du es nicht übertreiben."
Überraschenderweise klang sie ehrlich besorgt.
"Versprich mir, dass du dich von Ärger fernhältst. Zumindest, bis sich die Lage wieder etwas beruhigt hat"
Er seufzte entnervt, willigte dann jedoch widerstrebend ein.
"Ich werde mich zurückhalten, Minerva"
Bevor einer der beiden das Büro verließ und mich womöglich sah, lief ich zügig weiter zum Speisesaal.
Während ich über die Diskussion der zwei Lehrer nachdachte, nahm ich mir etwas Toast und Marmelade und setzte mich neben Max und ein paar andere der älteren Nyx.
Sie schienen gerade in ein Gespräch vertieft zu sein, weswegen sie mir nur kurz zunickten. Gedanklich schweifte ich wieder zu den Aufständen ab und verdrängte dabei erfolgreich den heute anstehenden Test im Überlebenstraining.
Erst am Nachmittag, als Professor Jones uns durch den Wald zu dem Eingang eines künstlich angelegten Labyrinths aus Hecken und Bäumen führte, wurde ich langsam nervös.
Wir waren für die Prüfung vom restlichen Unterricht befreit worden und würden nun innerhalb der Fraktionen gegeneinander antreten.
Die Eunomia hatten ihre Zeit in dem Heckenlabyrinth bereits überstanden, die anderen beiden Fraktionen würden erst nach uns an der Reihe sein.
Max hatte mir gestern Abend von seiner Erfahrung in dem Irrgarten erzählt, die nicht ganz so glimpflich ausgegangen war. Allerdings hatte ich mich bereits dafür gewappnet, dass ein Test, der aus Jones' grimmigem Zynismus, Professor Morgans gut gemeinter Strenge und Professor Rutherfords kühler Gnadenlosigkeit bestand, zu niemandes Gunsten ausfallen würde.
Ich würde mein Bestes geben. Und meine Kräfte waren eindeutig ausgereifter, als die der meisten anderen Nyx meines Jahrgangs.
Wahrscheinlich lag es daran, dass meine Kräfte bereits sehr früh eingesetzt hatten. Genau genommen waren sie das erste Mal aufgetaucht, als sie meine Mutter mitgenommen hatten. Dann wieder bei dem Trauerritual, das für meinen Vater und die anderen gefallenen Männer ausgerichtet worden war.
Ich war erst zwölf gewesen, als ich begann, meine Kraft bewusst einzusetzen. Die Schatten waren wie ein Trost für mich, etwas, was die Leere in mir ausfüllte.
Normalerweise zeigten sich die Kräfte eines Unterweltlers erst mit fünfzehn oder sechzehn - oder wie bei Aline durch den wenigen Kontakt zur Unterwelt erst später. Doch man konnte durch ein emotional prägendes Erlebnis in jungen Jahren eine frühe Kontrolle über die eigene Kraft erlangen.
So war es auch bei Safie gewesen. Sie war als Kleinkind von Gestaltwandlern verschleppt worden, ehe sie entkam, sich einige Monate lang alleine durchschlug und schließlich von der Dorfältesten zu uns gebracht wurde.
Die Kontrolle, die sie über ihre Kräfte hatte, war bewundernswert, und manchmal schien es, als wären ihre Kräfte mehr Teil von ihr, als alles andere an ihr.
"Ich hoffe, ihr seid bereit für den heutigen Test", holte mich Jones Stimme aus meinen Gedanken. Der scharfe Unterton verriet, dass wir ihn auf keinen Fall enttäuschen oder die Fraktion der Nyx blamieren sollten.
Zustimmendes Gemurmel folgte als Antwort.
"Wer von allen Fraktionen am schnellsten aus dem Labyrinth heraus gelangt, erhält einen Preis", fügte Jones hinzu und verschränkte die Arme. "Ich hoffe, das ist euch ein Anreiz...!"
"Was für ein Preis denn?", rief Damien.
Jones schnaubte bloß und blickte abfällig an ihm herab.
"Darüber brauchst du dir schon mal keine Gedanken machen, falls nicht noch ein Wunder passiert"
Damien ballte die Fäuste und sein Kiefer spannte sich an, während er gedemütigt zur Seite starrte.
"Viel Glück", sagte Jones bitter und ließ seinen Blick über uns gleiten.
Dann öffnete sich die steinerne Pforte zu dem wuchernden Irrgarten und alle stürmten drauf los.
Ich ließ mir etwas Zeit, ehe ich den anderen folgte und schließlich nach rechts in einen schmalen Gang aus hohen Tannen bog, den das Tageslicht nur spärlich beleuchtete. Die Stimmen der anderen wurden immer leiser, je weiter ich den Biegungen des Labyrinths folgte.
Als plötzlich ein Rascheln hinter mir ertönte, fuhr ich herum.
Gerade noch rechtzeitig.
Denn ein Schwarm unzähliger blau-silberner Schmetterlinge raste auf mich zu wie eine tödliche Wolke. Eine verdammt schnelle Wolke.
Fluchend stolperte ich ein paar Meter rückwärts und hob die Arme.
Wie ich Schmetterlinge hasste!
Nicht nur, dass ein Biss von ihnen giftig war - das laute, surrende Geräusch, welches sie beim Umherschwirren machten, erinnerte an das unangenehme Quietschen von Stein auf Metall.
Ich konzentrierte mich auf meine Kräfte und warf, kurz bevor mich die winzigen Killermaschinen erreichten, ein Netz aus Schatten über sie. Das Netz verdichtete sich immer weiter, sodass die Schmetterlinge mit leisen, quietschenden Schreien erstickten.
Beunruhigt musterte ich die toten Insekten.
Solche Tiere gab es in der Oberwelt sicherlich nicht - wie sollte Aline da auf ihren Angriff vorbereitet sein?
Ich musst irgendwie versuchen, sie zu warnen, bevor sie mit den Artemis ins Labyrinth verschwand.
Ein lautes Knirschen riss mich aus meinen Gedanken.
Vor mir hatte sich eine riesige vergoldete Tür mit einem Knauf aus schillernden Diamanten aufgetan.
Misstrauisch drehte ich an dem Knauf und machte mich darauf gefasst, dass etwas Unheimliches daraus hervorschießen würde.
Doch die Tür gab bloß den Blick auf einen majestätischen, verspiegelten Ballsaal mit Diamantkronleuchtern frei.
Weiterhin auf der Hut, jedoch ebenfalls staunend betrat ich den Raum, woraufhin sich die Tür hinter mir geräuschlos schloss.
"Hallo Shadow", ertönte eine freundliche Frauenstimme.
Ich blickte mich um, doch da war niemand.
"Keine Angst, es wird dir nichts geschehen, solange du dich an die Regeln hältst", flötete die Stimme.
"Was mache ich hier drin?", erwiderte ich und blickte mich weiter im dem gigantischen Ballsaal um.
"Du wirst versuchen, ein Rätsel zu lösen", antwortete die Stimme mit einem vorfreudigen Unterton.
"Okay", murmelte ich und verschränkte die Arme. "Wie lautet das Rätsel?"
"Es ist ein sehr altes Rätsel", erklärte die Stimme. Dann begann sie: "Gesucht ist ein Wesen, welches am Morgen vierfüßig, am Mittag zweifüßig und am Abend dreifüßig ist. Und je mehr Füße dieses Wesen bewegt, desto geringer ist aber seine Stärke."
Ich kniff die Augen zusammen.
Mit den meisten Kreaturen der Unterwelt kannte ich mich aus. Und keine hatte zu bestimmten Tageszeiten eine unterschiedliche Anzahl an Füßen.
"Es gibt kein solches Wesen", murrte ich.
Ein enttäuschtes Schnauben ertönte.
"Aber, aber, Shadow", tadelte die Stimme. "Gibst du so leicht auf?"
Plötzlich vernahm ich ein leises Quietschen, konnte den Ursprung dessen allerdings nicht ausfindig machen.
"Okay", überlegte ich weiter. "Also wenn es dieses Wesen so nicht gibt, muss es bildlich gesprochen sein..."
Auf einmal wurde mir bewusst, dass die Wände und die Decke langsam, aber unaufhaltsam näher rückten. Der Raum schrumpfte!
"Fuck", stieß ich aus, lief zu der Tür zurück und rüttelte vergeblich daran.
"Du musst erst das Rätsel lösen, Shadow", verkündete die Stimme trotzig, die mittlerweile nach der Stimme eines kleinen Mädchens klang.
Ich versuchte mich zu beruhigen und die schrumpfenden Wände auszublenden - was jedoch leichter gesagt als getan war.
"Am Morgen, am Mittag und am Abend...", zählte ich leise auf.
Ich dachte an die Dorfälteste, die immer gesagt hatte 'Der Abend ist nicht zum Ausruhen - nur der endgültigen Lebensabend, der auf uns alle wartet und dem niemand entgehen kann'.
"Die Tageszeiten könnten für das Leben stehen", keuchte ich und sah, wie die Wände immer schneller auf mich zurasten.
Die Stimme kicherte vergnügt.
Ich ließ mich davon nicht beirren.
"Der Abend ist die Zeit, kurz bevor die Seele eines jeden diese Welt verlässt", fuhr ich fort. "Der Morgen ist folglich die Zeit, kurz nach unserer Geburt und der Mittag der Höhepunkt des Lebens."
Das Kichern verstummte. Ich war also auf dem richtigen Weg.
Fieberhaft überlegte ich, welches Wesen sich im Laufe seines Lebens zuerst auf vier, dann auf zwei und später wieder auf drei Füßen bewegte.
Doch dann krachten plötzlich die Kronleuchter von der Decke und zersplitterten allesamt am marmornen Boden. Die Wände sausten auf mich zu und ich drückte mich panisch gegen die Tür.
Mein Herz hämmerte gegen meine Brust und mein Atem ging stoßweise, während mir der Schweiß in die Augen tropfte und meine Sicht vernebelte.
Bereits seit meiner Kindheit litt ich an Klaustrophobie. Doch so schlimm hatte ich mich noch nie gefühlt.
Vor meinem inneren Auge rasten Bilder vorbei. Ich sah Aline, wie sie lachend durch den Wald rannte. Meine Mutter, wie sie mir als kleiner Junge über den Kopf fuhr. Red und Safie, die mit mir im schwarz glitzernden Sand fangen spielten. Die Dorfälteste über ihren Stock gebeugt, wie sie stolz auf mich herab lächelte...
"Ich weiß es!", schrie ich gegen den Lärm der näher rückenden Wände an.
Erst jetzt merkte ich, dass der Saal nur noch die Größe eines Kartons besaß. Doch nun blieben die Wände quietschend stehen.
"Und?", fragte die Stimme erwartungsvoll. "Was ist die Lösung?"
Ich atmete tief ein und wischte meine schweißnassen Hände an meiner Jeans ab. "Es ist der Mensch. Am Morgen des Lebens krabbelt er als Kleinkind. Dann geht er aufrecht. Am Lebensabend geht er auf einen Stock gestützt. Und er ist am stärksten, wenn er auf zwei Beinen geht."
Die Stimme seufzte enttäuscht und ich befürchtete bereits, ich hatte mich getäuscht.
Doch dann löste sich der Raum - oder besser gesagt der steinerne Karton - in Luft auf.
"Die Antwort ist richtig", ertönte die Stimme ein letztes Mal.
Dann war alles verschwunden und ich saß wieder auf dem erdigen Boden des Waldes, umgeben von Hecken und Tannen.
Erleichtert atmete ich auf.
DU LIEST GERADE
Dreams of Salem
RandomAn der Akademie von Salem zu bestehen, ist schwieriger als gedacht - vor allem für jemanden wie Shadow. Zwar hat er in Aline eine Person gefunden, die ihn besser versteht, als irgendjemand sonst. Doch als ihn seine Vergangenheit einholt und die ganz...