17. Kapitel

251 16 0
                                    

Die folgenden Wochen verbrachte ich fast ausschließlich mit Training bei Jones. Dass dieser dafür einige Unterrichtsstunden ausfallen ließ, wurde von Professor Morgan mit privaten Angelegenheiten erklärt, um die er sich kümmern müsste.
Doch Max und seine Kumpel an älteren Nyx waren nicht dumm. Sie fragten mich immer wieder über Jones und das Extratraining aus und schienen von Mal zu Mal misstrauischer.
Ich schaffte es zwar, ihren Nachforschungen geschickt auszuweichen, und ging ihnen irgendwann sogar aus dem Weg.
Doch es war anstrengend, so viele Geheimnisse haben zu müssen.
Vor allem, da ich mit Jones auf dem Schulgelände nicht offen über Rebellenangelegenheiten sprechen konnte.
Ich war nie wirklich ein offenes Buch gewesen, doch mein Ruf als mysteriöser Typ war auch ein wenig übertrieben.
Noch nie bisher hatte ich heikle Informationen über geheime Rebellionspläne für mich behalten müssen. Die Leute aus meinem Dorf waren ohne Konzept vorgegangen. Sie hatten sich ungeplant aufgelehnt. Sie hatten keine andere Wahl gehabt, als aus dem System auszubrechen.
Rebellen wie Megan oder Isobel hatten eine Wahl. Und sie entschieden sich bewusst dafür, einen Aufstand anzuzetteln.
Wenn ich nicht gerade über die Rebellen nachgrübelte oder beim Trainieren von Jones getriezt wurde, verschlang ich die Bücher, die mir Jones geliehen hatte.
Unter anderem waren es ungekürzte - nicht von der Elite zurechtgestutzte - Erstfassungen über die Kronen-Revolution des neunzehnten Jahrhunderts.
Ich war gerade vollkommen versunken in meinen Roman, als Aline die Bibliothek betrat. Sie brauchte ein wenig, um mich in der hintersten Ecke des letzten Gangs mit Büchern über Stammbäume der Herrscherfamilien zu entdecken.
"Wow. Das nenne ich mal ein gelungenes Versteck", grinste sie und ließ sich mir gegenüber auf den Holzboden sinken.
Ich zuckte die Schultern.
"Was bleibt mir auch für eine Wahl, wenn ich ständig vor den anderen Nyx abhauen muss. Glücklicherweise ist Flynn echt nicht der Hellste und fragt mich nicht auch noch aus", murmelte ich bitter.
Aline legte mir eine Hand auf den Arm. "Wie geht es voran?"
Ich seufzte.
"Nicht so, wie Jones es sich wohl erhofft hatte."
"Und die Träume?"
"Seltener, aber sie sind immer noch da", erklärte ich.
"Anscheinend kann ich nur im Wachzustand verhindern, dass er in meinen Kopf dringt."
Sie lächelte aufmunternd.
"Das ist doch immerhin etwas."
Ich nickte bloß, weil ich ihr so vieles gerne gesagt hätte, aber wusste, dass ich das nicht tun konnte.
"Ich hab dir ein paar meiner Notizen aus dem Unterricht mitgebracht."
Sie reichte mir einige leicht zerknitterte Zettel, die mit ihrer eher unordentlichen Handschrift gefüllt waren.
"Na, immerhin passt du durch mich jetzt mal richtig auf", stellte ich schmunzelnd fest.
"Eigenartigerweise habe ich heute sogar..." Sie verstummte.
"Was?"
"Psst", machte sie leise. "Max und diese komische Lauren kommen auf uns zu."
Schnell ließ ich meinen Körper mit den Schatten, die die hohen Bücherregale warfen, verschmelzen. Gerade noch rechtzeitig.
Denn im nächsten Moment bog schon Max um die Ecke.
"Hey Prinzessin, ganz allein hier?", begrüße er sie grinsend.
"So häufig wie du mich nach Shadow fragst, könnte man meinen, du hättest tiefe, nicht-platonische Gefühle für ihn entwickelt", erwiderte Aline spöttisch.
Max lachte abfällig.
"Immer wieder schön mit dir zu quatschen, Aline."
Mit einem falschen Lächeln wandte er sich von ihr ab.
Als er um die Ecke verschwunden war, machte ich mich wieder sichtbar.
"Mein Gott, der nervt!", murmelte Aline.
Ich lachte leise. "Schön zu sehen, dass du mit ihm fertig wirst."

"Du bist so weit."
Entgeistert blickte ich Jones an.
"Gestern haben Sie noch gesagt..."
"Ich weiß, was ich gesagt habe", unterbrach er mich barsch.
Die Sonne war mittlerweile untergegangen und die kühle Abendluft erfüllte den Wald. Es roch nach Blättern, Moos und Nacht.
Außer einigen Windkatzen in unserer Nähe, erfüllte eine drückende Stille die Lichtung.
"Denken Sie wirklich, ich kann das schaffen?"
Er nickte ruhig, doch ich merkte, dass seine Gelassenheit nur Fassade war. Er war sich nichts sicher.
Blätter raschelten und ich sah zwei Gestalten im Dunkeln auf uns zukommen.
"Meine Güte, ist das finster!", fluchte Professor Morgan, ehe sie die Lichtung betrat, die von den Fackeln, die Jones mitgebracht hatte, notdürftig erhellt wurde.
Sie hatte sich bei Harry untergehakt, um nicht zu stolpern.
Überrascht sah ich zu dem Kampftrainer, doch Jones kam mir zuvor.
"Was zum Teufel macht er hier?!"
Professor Morgan verdrehte bloß die Augen und ignorierte Jones' bissigen Kommentar.
Harry stellte sich mit verschränkten Armen mir gegenüber.
"Alles in Ordnung, Shadow?"
Ich nickte.
"Du packst das", ermutigte er mich und klopfte mir auf den Oberarm.
"Wir werden das hier nur tun, wenn du dir vollkommen sicher bist, dass du dir das zutraust", versicherte mir Professor Morgan und ihr besorgter Blick zeigte mir, dass ihr ganz und gar nicht wohl bei dieser Aktion war. "Ich werde die ganze Zeit neben dir sein und einschreiten falls nötig."
Wieder nickte ich stumm.
Ich hätte gerne gewusst, wie genau sie einschreiten wollte, doch aus Angst, dass sie darauf selbst keine Antwort hatte, verdrängte ich den Gedanken.
Mir war klar, dass es gefährlich werden konnte und ich war mir grundsätzlich nie zu schade, ein Risiko einzugehen - aber ich würde wesentlich lieber bei einer heldenhaften Rebellion draufgehen, als von irgendeinem Verrückten in meinen eigenen Erinnerungen niedergestreckt zu werden.
"Also gut", sagte Jones. "Du wirst jetzt alles ganz genau so machen, wie wir es besprochen haben, verstanden?"
Mein Kopf nickte schon ganz von selbst.
Im Stillen fragte ich mich, was wohl passieren würde, wenn es schlecht ausging?
Und was war eigentlich das Letzte gewesen, was ich zu Aline gesagt hatte? Würden meine berüchtigten letzten Worte eine dumme Frage an Jones sein?
Ich lachte bitter bei dem Gedanken.
"Ladies und Gentleman", sagte ich dann feierlich und verbeugte mich sarkastisch. "Die Show ist eröffnet."
Dann schloss ich die Augen und konzentrierte mich auf eine Erinnerung, die mir der Sandman bereits mehrmals gezeigt hatte.
Meine Mutter wurde von den schwarz gekleideten Männern davon gezerrt.
Die Dorfälteste packte mich am Arm.
Ich versuchte mich loszureißen und hinter meiner Mom her zu rennen. Doch ihr Griff war eisern.
Ich schrie.
Red schluchzte neben mir.
Meine Mutter drehte sich zu mir um und hörte auf sich zu wehren.
Ihre Augen baten mich stumm, ihr zu verzeihen, dass ich nun alleine sein würde.
'Ich liebe dich', formten ihre Lippen.
Dann wurde sie weiter geschleift.
Da war er.
Mr. Sandman.
Inmitten des ganzen Chaos.
"Siehst du nicht, was sie dir angetan haben?", fragte er.
Ich erhob mich und plötzlich waren alle anderen um uns herum verschwunden.
Wir standen uns alleine in der schwarzen Wüste gegenüber.
Der dunkle Sand unter meinen nackten Füßen war kalt und die Luft staubig.
Aber ich war nicht mehr der verzweifelte Junge von jenem Tag. Ich war wieder mein achtzehnjähriges Ich.
Schatten krochen aus meinen Fingerspitzen hervor und auf Mr. Sandman zu, dessen Augen sich überrascht weiteten.
Dann lächelte er herablassend.
"Was hast du vor, Morpheus?"
Ich antwortete nicht, sondern ließ die Schatten, die auf ihn zu zischten, für mich sprechen.
Mit einem dumpfen Knall landete ich auf dem Boden, und als ich blinzelte sah ich unzählige, leuchtend türkisblaue Schmetterlinge, die durch einen finsteren Kellergang flatterten.
Der Gang sah aus, wie ein altmodischer Kerker und war so niedrig, dass ich den Kopf einziehen musste, als ich mich aufrichtete.
"Hallo?"
"Hallo?", hallte meine Stimme tausendfach wieder. Auf eine unheimliche Art und Weise klang sie dabei aber überhaupt nicht nach mir.
Ich machte einen Schritt nach vorne, taumelte und musste mich an der Wand abstützen.
Verdammt.
Mir blieb nicht viel Zeit.
Ich konnte mich kaum auf den Beinen halten, aber ich schaffte es, mich auf eine mit violettem Samt behangene Tür hinzu zu bewegen. Ich drehte an dem Türknauf und die Tür schwang laut knarzend auf.
Alles was ich dahinter sehen konnte war Blut und...
Es verschlug mir den Atem.
Die Tür schlug mit einem dumpfen Knall direkt vor meiner Nase wieder zu.
Der Gang schwankte.
Oder ich schwankte.
In meinem Kopf drehte sich alles und Übelkeit stieg in mir auf.
Ich krallte mich an den Wänden fest, suchte vergeblich nach Halt. Ich spürte, wie der scharfe Stein der Wände meine Haut aufschürfte.
Dann wurde es mit einem Schlag stockdunkel um mich herum und ich fühlte rein gar nichts mehr.

Dreams of SalemWo Geschichten leben. Entdecke jetzt