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»Wie war es in der Schule?«

Schrecklich. Nervig. Langweilig. Alle wollten mit mir reden, da sie dachten, es würde helfen, doch ich will einfach alleine sein. Ich will nicht mehr hingehen. Ich will Theo nicht wieder über den Weg laufen müssen. Ich will nicht, dass alles so unfair ist. Ich hasse es, dass mich niemand versteht, aber alle so tun, als könnten sie es.

»Gut«, antworte ich stattdessen.

»Schön. Ich hoffe, es geht dir besser«, sagt meine Tante und lächelt. Aber sie schenkt mir nie ihr volles Lächeln, jedes Mal schwingt diese Unsicherheit und die Sorge mit, und ich kann es ihr nicht verübeln. Ich kann niemandem verübeln, dass das alles so ist. Nur diesem Truckfahrer, welchem ich so gerne ein mal nur gegenüberstehen würde. Ich würde ihn anbrüllen und schlagen, und ihm zeigen, was er angerichtet hat. Ich würde ihn fragen, wie er das hatte tun können. Warum er nicht einfach eine Minute später hätte losfahren können. Warum er nicht ein verdammtes Bier weniger trinken konnte. Oder zwei. Warum nicht er es ist, der jetzt tot ist.

»Ja, etwas«, antworte ich. Lüge ihr ins Gesicht wie gedruckt.

Dann gehe ich die knarzende Holztreppe hinauf in mein kleines Zimmer und werfe mich auf das Bett. Ich beginne, mich an den Omageruch und das modrige Holz zu gewöhnen und hasse das. Ich will nicht, dass mein Körper diese Gerüche als vertraut annimmt, ich will nicht, dass irgendetwas hier zu Heimat wird.

Die erste Träne bahnt sich den Weg über meine Wange. Noch starre ich die Decke an, doch nach ein paar Sekunden kneife ich die Augen zusammen und beginne, zu weinen. Ich drehe mich um, vergrabe meinen Kopf in dem Daunenkissen und kralle mich darin fest.

Ich denke an Theo und wie unfair er mich behandelt, wie er so tut, als wäre ich ein schrecklicher Mensch, obwohl ich doch einfach nur versuche, alleine klarzukommen. Und doch weiß ich, dass er irgendwo recht hat. Ich stoße seit dem Tod meiner Eltern jeden von mir, bin kalt und unausgeglichen und gebe anderen das Gefühl, dass sie sich nicht genug anstrengen. Und doch bin ich so egoistisch, dass es mir nicht wichtig genug ist. Dass ich denke, ich bin wichtiger, weil ich es bin, die ihre Familie verloren hat. Weil ich es bin, die endlich ein Wunder verdient hat. Ich, die doch jetzt einfach nur von Mum in den Arm genommen werden will, da sie mein Weinen durch die Tür gehört hat.

Ich weiß, dass Enya meine Schluchzer im Nebenzimmer hören könnte. Aber ich will nicht, dass sie zu mir kommt. Ich will nicht hören, dass alles gut wird. Von niemandem. Ich will nicht hören, dass alles okay ist, denn das ist es nicht. Seit einem halben Jahr ist gar nichts okay, und dann werde ich auch noch auf das Land gezerrt, mit dem ich nichts anfangen kann. Als hätten meine Tante und meine Cousine mein Leben komplett geändert. Als wäre ich nun ein anderer Mensch, ein Dorfkind mit neuer Mutter.

Mein Herz wiegt so schwer, es schmerzt und hört damit nicht auf. Schon so lange. Anfangs war es noch zerreißender, unaushaltbarer. Jetzt ist es nurnoch schwer. Der Schmerz ist wie ein Begleiter, der mich beim Laufen zurückhält und sogar im Liegen von oben Druck ausübt. Ständig. Ich bin müde. Immer.

Ich schniefe und wische mir durch das verheulte Gesicht. Dann greife ich nach dem Tagebuch. Ich habe jetzt einen neuen Therapeuten, dessen Praxis in der nächsten Stadt liegt, also bräuchte ich nicht einmal mehr das Tagebuch führen. Bestimmt ist er auch ganz anders, dörflich, versteht mich noch weniger. Ich werde von Null anfangen müssen.

Tag 196. Es wird immer schlimmer. Jetzt bin ich noch weiter von euch entfernt, immer weiter. Wann fange ich an, auch dein Gesicht zu vergessen, Mum? Wann schwinden euere Stimmen aus meinem Gedächtnis? Will ich, dass das alle endlich ein Ende hat, dass der Schmerz aufhört und der Hass und die Wut auf die Menschen um mich herum? Oder will ich, dass es weitergeht, um an euch festzuhalten? Warum hat er euch das Leben genommen, aber mir kann niemand die Trauer nehmen? Warum? Die Menschen hier verstehen mich noch weniger, versuchen es nicht einmal. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.

Die nächsten Tage verlaufen schleppend. Wenn ich Theo sehe, versuche ich, schnell in meine Klasse zu flüchten. Mittwochs habe ich auch noch einen Kurs mit ihm. Zumindest verstehe ich den Stoff in manchen Fächern halbwegs, da ich die 11. Klasse durch meinen langen Ausfall wiederhole. Meine Mitschüler haben aufgehört, zu versuchen, mit mir zu reden und stempeln mich wahrscheinlich als genau das ab, was ich bin. Ein unfreundlicher, schweigsamer Griesgram, der keinerlei Interesse daran hat, Anschluss oder gar Freunde zu finden.

Als endlich Wochenende ist, klopft Enya an meine Zimmertür. Ich liege schon wieder in meinem Bett, wie jeden Nachmittag und schaue auf. »Heute Abend findet eine Party am See, an dem wir immer vorbeilaufen, statt«, sagt sie mit ihrer leisen Stimme. Sie ist noch immer unsicher, wenn sie mit mir redet, und das tut mir tatsächlich ein wenig leid. »Du kannst gerne hingehen«, sage ich sofort. »Ich würde dich gerne mitnehmen«, erklärt sie und hebt bittend die Mundwinkel an. Ich schüttle den Kopf. Ganz sicher nicht. »Tut mir leid. Wann anders mal.« Sie seufzt. »Bitte. Ich will dich auf andere Gedanken bringen.« Ihre Stimme wird langsam fester. Ich lache ironisch auf. Als könnte das irgendjemand schaffen, wenn nicht einmal ich es schaffen kann.

»In deinem Zimmer zu sitzen bringt auch nichts. Wir haben bestimmt Spaß. Einfach mal den Alltag vergessen für ein paar Stunden. Die Jugend genießen.« Sie sieht mich flehend an. »Tante Louise lässt mich ohne dich nicht aus dem Haus, glaub mir«, ergänzt sie dann leise und lächelt dann schwach. Tatsächlich bringt mich das zum Schmunzeln. Ich sehe in ihre großen jungen Augen, die mich ehrlich anblicken. Sie ist eine gute Seele und mir zusätzlich schon etwas ans Herz gewachsen. Und das will ich nicht kaputt machen.

»Nagut«, gebe ich also nach, »aber nur, wenn ich jederzeit gehen darf.« Enya lächelt über beide Ohren und nickt heftig. »Du wirst es nicht bereuen!«

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