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Enya liegt auf meinem Bett und hat alle Gliedmaßen weit von sich gestreckt.

»Was machst du hier?« Ich bleibe mitten im Zimmer auf den kalten Dielen stehen und mustere sie verwirrt. Enya öffnet die Augen und richtet dann ihren Oberkörper auf. »Niva«, seufzt sie erleichtert. »Wo zur Hölle warst du schon wieder?«

Ich presse die Lippen aufeinander und gehe dann zu ihr. Ich lasse mich neben ihr auf meiner Matratze nieder. »Am See«, antworte ich. »Echt jetzt?« Ich nicke. »Er hatte also doch Recht«, grinst Enya dann. Ich schaue zu ihr und runzle die Stirn. »Theo«, erklärt sie, »er war hier. Du weißt schon, dieser gutaussehende Junge, mit dem du dich rumtreibst.« Ich verdrehe die Augen. »Ich hatte den See anscheinend mal erwähnt oder so«, sage ich beiläufig. Enya hebt nur grinsend eine Braue.

»Aber jetzt mal Klartext«, sagt Enya dann und rutscht weiter nach vorne zum Matratzenende, bis sie ihre Füße auf dem Boden abstellen kann. Dann sieht sie mich eindringlich an. »Dieser Levin ist mir sehr suspekt. Ich habe euch gehört, besser gesagt dich. Ist alles okay? Wir hatten so Angst um dich.«
Ich nicke. »Ich... weiß. Ich versuche, mich zu distanzieren. Es ist alles gut, danke, Enya.« Ein leichtes Lächeln erscheint in ihrem traurigen Gesicht. Dann lehnt sie sich zu mir und schlingt ihre Arme um mich.

»Ich habe dich lieb, Cousine«, flüstert sie. »Und ich dich«, gebe ich leise zurück. Mein Herz erweicht ein wenig und hört sogar kurz auf, weh zu tun. Als würde Enya all die Trauer und Angst kurz mit Liebe wegspülen. »Ich bringe den um, wenn er nochmal mit seinem Zahnpastalächeln und den blauen Kontaktlinsen in meiner Haustür steht«, sagt sie mit fester Stimme, als sie sich wieder von mir entfernt. Ihr Gesichtsausdruck dazu ist einfach nur niedlich, auch wenn er wahrscheinlich ernst und bedrohlich wirken soll.

Ich lächle dankbar. »Ich glaube, ich muss dich enttäuschen. Das sind keine Kontaktlinsen, die sind echt.«
Ihre Augen weiten sich. »Ist das unfair!«
Ich muss schmunzeln. »Hinter schönen Fassaden stecken eben die hässlichsten Einrichtungen«, sagt sie dann. »Ich glaube nicht, dass das ein Sprichwort ist.« Ich ziehe meine Stirn kraus und muss grinsen. Doch Enya kräuselt ihre kleine spitze Nase und zuckt einfach mit den Schultern.

»Bitte sag mir nächstes mal Bescheid, okay?« Sie streicht eine blonde Haarsträhne hinter das Ohr. Ich nicke. Sie lächelt sanft. Ihr Gesicht sieht so jung und zerbrechlich aus, ich würde es eigentlich gar nicht übers Herz bringen, ihr weh zu tun.

»Ich muss jetzt dann in die Schule. Erlaubst du mir das, Cousine?« Ich grinse sie an und sie nickt zufrieden.
»Mit deinem Retter, ich weiß schon.« Sie zwinkert mir zu.
»Was war... hast du gerade gezwinkert?«, frage ich empört. Enya kichert und zuckt mit den Schultern. »Ist auf jeden Fall eine bessere Wahl«, fügt sie hinzu und steht auf. Ich verdrehe die Augen.

»Viel Spaß«, sagt Enya noch, dann verlässt sie den Raum.

Ich sehe zu dem hohen Spiegel, der mir gegenüber an der Wand lehnt. Sein Holzrahmen ist hell gestrichen und großzügig verziert. Mir fallen die Wellen in meinen Haaren auf, die der Regen hinterlassen hat. Doch ich habe gar nicht mehr unbedingt das Bedürfnis, sie zu glätten. Oder meine Augen so dunkel wie möglich zu umrahmen oder meine Lippen unnatürlich rosa zu färben.

Ich finde diese Wellen sogar ganz hübsch. Ich sehe anders aus. Neu. Wie ein neuer Mensch.

***

Als Theo mir die fertigen Entwürfe vom Abendprogramm zeigt, stimme ich zufrieden zu.

»Wurde auch endlich mal Zeit.« Ich lasse mich erleichtert in die Stuhllehne sinken. Theo nickt zustimmend. Mir geht es etwas besser, obwohl Mums Geburtstag unmittelbar vor der Tür steht. Alleine Theos Anwesenheit beruhigt mich irgendwie. Natürlich schätze ich Louise und Enya auch sehr, doch Louise ist eben meine überfürsorgliche Tante, die es sich zur Aufgabe setzt, mein Leben in den Griff zu bekommen und Enya kommt gerade selbst in eine Lebensphase, in der sie mit ihren eigenen Problemen zurecht kommen muss.

Aber Theo hat, wie ich, schon mehrere Schicksalsschläge durchmachen müssen. Und ich habe das Gefühl, dass wir uns gegenseitig das Gefühl geben, nicht alleine zu sein. Wenn er mir sagt, er würde mich verstehen, dann weiß ich, dass er es so meint. Weil er es am eigenem Leib erfahren hat. Vielleicht nicht denselben Schmerz aus denselben Gründen, doch mindestens genauso starken.

Ich bin mir sicher, dass auch er schon oft an der Grenze war, an der er sich gefragt hat, wozu er überhaupt lebt. Zu was er es überhaupt noch bringen soll, für wen er das alles macht.

»Hat Levin sich gemeldet?«
Mein Lächeln verblasst aufgrund diesen plötzlichen Themenwechsels. »Ja«, sage ich kurz. Theo hält inne und sieht zu mir. »Tut mir leid, ich...«
Ich winke ab. »Ist schon gut.« Ich habe ihm auf dem Rückweg vom See grob erklärt, dass Levin wieder zu weit gegangen ist. Ich bin nicht ins Detail gegangen und trotzdem ist es ein großer Schritt gewesen, ihm so viel anzuvertrauen.

Levin hat mir eine Nachricht geschrieben, in der er sich entschuldigt. Pseudomäßig, wie immer. Er tut mir nicht gut.

Ich sehe zu den Deko-Kartons. »Sieht aus, als hätten wir alles«, sage ich. Theo nickt. »Hast du noch etwas vor?«, fragt er dann. »Nein«, antworte ich perplex. Ich blinzle ihn skeptisch an. Diese neue freundschaftliche Ebene zwischen uns ist ungewohnt.

»Heute ist der Geburtstag meiner Großmutter. Und der Todestag meiner... Mutter.« Seine Stimme wird immer leiser und das Wort ›Mutter‹ auszusprechen fällt ihm deutlich schwer. Wie ein fieses Schimpfwort fließt es über seine Lippen und hinterlässt einen niedergeschlagenen Blick.

»Sorry, ich wollte nicht-« Theo steht auf und und schüttelt hektisch den Kopf, während er eben gesagtes versucht, wieder rückgängig zu machen. Doch ich strecke die Hand nach ihm aus und halte ihn am Arm fest.

»Natürlich lenke ich dich ab. Ich kann mir vorstellen, dass es nicht leicht für dich ist.«
Überrascht blinzelte er mich an. Ich lächle zu ihm hinauf. Dann setzt er sich langsam wieder auf den Stuhl neben mir.

»Es ist nicht wie... bei dir. Das schlimme bei mir ist eher die Stimmung, die an diesen Tagen herrscht. Heute ist der Tag, an dem mich alle am meisten hassen. An dem alle zurückdenken und mir immer wieder aufs neue die Schuld zuweisen. Mir all das sagen, was ich schon mein Leben lang hören muss. Ehrlich gesagt habe ich da keinen Bock drauf.« Er fährt sich mit den Händen durch das Gesicht.
»Natürlich. Ich verstehe dich, Theo.«

»Weißt du was?«, fragt er dann rhetorisch, lässt seine Hände auf den Tisch fallen und sieht mich mit festem Blick an. »Ich würde jetzt lieber mit dir in die nächste Stadt fahren. Ich würde sogar Bubbletea mit dir trinken gehen. Alles, wirklich alles, bloß weg von meiner Familie!« Er wirft theatralisch die Hände in die Luft.

»Das hättest du nicht sagen dürfen«, gebe ich grinsend zurück. Er mustert kurz meine Reaktion, dann muss er schmunzeln. »Solange es einen von uns glücklich macht«, erwidert er dann ergeben.

Zufrieden stehe ich auf. »Na dann. Auf was wartest du?«
Er sieht zu mir auf. Seine braunen Augen glänzen mich unschuldig an und wirken so groß und lieb wie die eines Kindes. Man darf aufgrund von Äußerlichkeiten wirklich keine voreiligen Schlüsse ziehen, denn ich weiß schließlich, was für ein Temperament tatsächlich hinter ihnen lauert.

»Echt jetzt?« Begeistert steht er auf.
»Echt jetzt.«

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