[12]

67 8 8
                                    

Es ist Freitag. Ein Tag nach Theos und meinem Waffenstillstand und eine vergangene Nacht, in der ich alles überschlafen konnte.

Die ganzen übergekochten Emotionen und Ereignisse vom vergangenen Tag sind nurnoch schleierhaft in meinem Gehirn verankert und ich frage mich mit jeder Minute, ob ich nicht einfach übertrieben habe. Ich weiß nicht einmal mehr, was genau der Auslöser für meine Angst oder den plötzlichen Drang, zu fliehen, war. Sicher bin ich mir nur damit, dass ich instabil und ein emotionales Wrack bin.

Ich werde heute mit Levin über alles reden. Besser gesagt: Jetzt. Zumindest über so viel, was in die Zeit passt, bevor ich mich am Spätnachmittag wieder in die Schule setzen und mit Theo dem Abendprogramm den letzten Feinschliff geben muss.

Ich hatte nicht viel Zeit, alles zu verarbeiten, was gestern passiert ist. Geschweigedenn meine eigentliche Trauer herauszulassen.

Doch es läutet schon an der Tür.

Ich springe auf und sprinte die Treppe hinunter, bevor Tante Louise es auch nur in Anbetracht zieht, sich vom Herd fortzubewegen.

»Levin. Hi.« Etwas überfordert mustert er mich, dann lächelt er warm. »Niva. Hi«, erwidert er, » schön dich zu sehen.«

Und bei diesem Anblick kann ich gar nicht mehr nachvollziehen, wie ich gestern auch nur ansatzweise an ihm zweifeln konnte. Sein unschuldiges Lächeln, dieser echte Blick, er würde mir nie etwas böses wollen.

»Komm rein«, sage ich mit der festen Überzeugung, heute alles geradezubiegen.

»Wer ist denn da?«, höre ich meine Tante rufen, die keine Sekunde später im Türrahmen steht. Ihr Blick fliegt über Levin, dann zu mir. Ich halte kurz die Luft an, doch als sie anfängt, breit zu lächeln, und Levin begrüßt und ihm gleich ein Wasser anbietet, atme ich erleichtert aus. Ich weiß, dass es Louise erleichtert, mich glücklich zu sehen. Und sie weiß, dass Levin mich glücklich macht, deshalb mag sie ihn.

»Gerne, Frau Hedwick«, sagt Levin wie zu erwarten. Gentleman durch und durch.

Als meine Tante meinem hübschen Gast ein Glas in die Hand gedrückt hat, nicke ich zur Treppe und er folgt mir. »Nett, Sie endlich kennenzulernen«, sagt er noch zu meiner Tante und sieht ihr dabei stets in die Augen. Dann nimmt er ihre Hand und deutet einen Handkuss an. Daraufhin lacht sie beschämt in ihre andere Hand und schüttelt lächelnd den Kopf, als er sich zu mir und der Treppe wendet. Macht man das so auf dem Land? Oder in den 70ern? Meine Tante ist zumindest hin und weg von Levin.

»Ich wollte mit dir reden«, falle ich sofort mit der Tür ins Haus, als ich meine Zimmertür hinter uns schließe. Meine beiden Hände liegen noch auf der Tür in meinem Rücken und meine Nervosität lässt mein Herz beinahe explodieren.

Levin dreht sich zu mir und legt seine Stirn leicht in Falten. Dabei sieht er unfassbar gut aus, und ich hasse mein Gehirn dafür, dass es nicht bei der Sache bleiben kann. Seine kurzen blonden Bartstoppeln sind wieder frisch getrimmt, das sind sie meistens.

»Wegen... gestern. Und auch davor. Wegen allem, eigentlich«, stottere ich herum, ohne einen Plan zu haben, wie genau ich überhaupt anfangen soll. »Hey«, sagt Levin beruhigend und kommt auf mich zu. Er legt seine Hände auf meine Schultern und sieht mich aufmunternd an. »Wollen wir uns nicht erst einmal hinsetzen?« Ich nicke schluckend. Wieder wird mir ganz warm in seiner Nähe.

Wir setzen uns auf mein Bett.

»Das gestern tut mir leid. War wohl nicht der beste Ort«, sagt Levin und lacht auf. Ich starre auf die Holzdielen vor meinem Bett. »Nein«, sage ich, ohne den Hauch eines Lächelns, »war es nicht.« Und nicht die richtige Zeit, nicht das richtige Gefühl, einfach nichts war richtig. Aber das sage ich nicht, denn ich versuche schließlich, ihm heute alles zu erklären.

NeuanfangWo Geschichten leben. Entdecke jetzt