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Die Besucher verstummen, als die Lautsprecher und das laute Mikrofon einen hohen, unangenehmen Ton von sich geben.

Ich drücke Enyas Hand ganz fest und starre wie gebannt auf die Theaterbühne.

Dort steht er.

Plötzlich so verloren und aufgeschmissen.

Mit seinen blonden, perfekt gestylten Haaren und in dem blauen Strickpolover wirkt er auf einmal doch nur wie ein kleiner Junge, den seine Mutter alleine an der Kasse hat stehen lassen.

»Hallo«, sagt Levin leise. Doch da das Mikrofon übersteuert und er gleichzeitig über alle Lautsprecher übertragen wird, bringt es ihm nichts.

Jeder kann ihn hören. Laut und deutlich. Und endlich ist er es, der lüsternen Blicken ausgeliefert ist und schwitzend und erdrückt im Rampenlicht steht. Ganz alleine und hilflos. Ohne jeglichen Ausweg.

»I-Ich möchte etwas sagen.« Seine Stimme zittert. Dann hört man für einige Sekunden nur sein rauschendes Atmen durch die Lautsprecher und das Knistern des Zettels, den er jetzt auffaltet. Kein Gemurmel aus dem Publikum, kein Geschirrgeklapper, nichts.

»Ich entschuldige mich hiermit bei... Lina Nowell. Bei Fiana Barry. Bei... Theresa Menford. Bei Cathrin...« er hält kurz inne und atmet zittrig ein. »... McCarry. Und bei... Niva Mallow.«

Stille. Niemand in der Aula versteht, was hier vor sich geht, außer die gebrochenen und traumatisierten Mädchen, die er eben aufgezählt hat und vielleicht deren Freunde. Auf meinem ganzen Körper kribbelt eine Gänsehaut und jedes seiner Worte brennt sich in mein Gehirn ein.

»Außerdem habe ich gelogen. Keine von ihnen war jemals an den Dingen Schuld, die ich behauptet habe. Und ich habe jeder von ihnen... Unrecht getan.«

Seine Worte durchschneiden die Luft wie messerscharfe Klingen. Niemand gibt einen Laut von sich. Meine Arme und Beine beben, mein Atem geht flach und schnell.

Dann öffnet sich die Eingangstür und schnelle, laute Schritte sind zu hören. Alle sehen wie gebannt zu, wie drei Einsatzkräfte durch die Aula schreiten und Levin von der Bühne ziehen.

Als hätte jemand einen Schalter umgelegt, herrscht plötzlich laute Unruhe. Die Besucher reden wirr durcheinander und manche verlassen eilig das Gebäude.

Ich drehe mich zu Enya, nachdem ich zugesehen habe, wie Levin aus dem Eingang begleitet wurde. Kurz denke ich darüber nach, ob er auch nur eines seiner Worte so gemeint hat, doch dann streiche ich ihn endgültig aus meinem Herzen.

Erleichtert falle ich ihr um den Hals. »Danke für alles, Cousine«, schluchze ich und lasse den Tränen freien lauf.
»Denkst du, Theo hat das mitbekommen?« Hoffnungsvoll sehe ich sie an.
»In jedem Klassenzimmer sind Lautsprecher. Er muss es gehört haben«, antwortet Enya. Und wieder bin ich so froh und stolz über ihren Einfall, Levins erzwungene Ansprache über die Lautsprecher mitlaufen zu lassen.

»Oh mein Gott!« Tante Louise hat uns gefunden und schlingt ihre Arme um uns. »Was hat er dir angetan, Niva? Dieser Mistkerl, wenn ich den erwische! Und dann auch noch in meinem Haus!«

»Es ist jetzt alles in Ordnung, Louise«, besänftige ich sie schnell und berühre sanft ihren Arm. »Er ist weg. Endlich. Und das dank deiner Tochter.« Ich lächle Enya dankbar entgegen.

»Niva?«

Ich drehe mich um.

Und da steht er.

Mit geschwollenen, müden Augen und einem traurigen Lächeln auf dem Gesicht. Seine braunen Haare hängen zerzaust in seine Stirn und sein Gesicht ist sehr blass. Und trotzdem ist er in meinen Augen der schönste Mensch auf der Welt. Nach meiner Mum vielleicht.

»Es tut mir so leid«, schluchze ich und falle ihm ohne nachzudenken um den Hals. »Ich hätte es dir sofort sagen müssen.« Er erwidert meine Umarmung und drückt mich fest an sich. »Hör auf. Ich hätte nie auf andere hören sollen. Es war klar, dass das alles sein Plan war. Natürlich. Wie konnte ich dir das nach allem, was passiert ist, nur unterstellen?« Auch Theo lässt alles heraus und schluchzt in meine feuchte Halsbeuge.

Dann entfernt er sich von mir und streicht über meine tränennassen Wangen.

»Ich werde dich nie wieder im Stich lassen, Niva«, schnieft er. Dann lege auch ich meine Hände an seine feuchten Wangen und ziehe ihn zu mir.

Und nie war ein Kuss so ehrlich. Nie war ein Gefühl so traurig und erschüttert, doch glücklich und verliebt zugleich. Nie war ich mir so sicher in einem Menschen.

»Da drüben gibt es Käsenachos«, flüstere ich und Theo erwidert mein Grinsen.

»Aber du musst mir erzählen, wie zum Teufel ihr es geschafft habt, dieses Arschloch dazu zu bringen, zu gestehen«, sagt Theo und sieht mich mit großen Augen an. Ich drehe mich zu Enya, die schmunzelnd neben uns steht und lächle sie breit an.

»Ohne meine Cousine hätte ich es nie geschafft. Sie kennt alle Opfer von Levin und zusammen haben wir es geschafft, dass alle eine Aussage bei der Polizei gemacht haben«, fange ich an und schaue dann zu Enya. »Dann haben wir Levin gefunden«, führt sie fort und stellt sich neben mich. »Niva hat ihm eine Nachricht geschrieben und ihn gebeten, sie am Ausgang zu treffen. Wir haben ihn direkt damit konfrontiert, dass wir zur Polizei gehen würden, wenn er nicht gesteht.«

»Was wir natürlich zuvor schon gemacht haben«, werfe ich siegessicher ein.

»Und dass das Mikrofon gleichzeitig mit den Lautsprechern aus den Klassenzimmern verbunden war, haben wir Eric zu verdanken.« Enya zeigt auf den blonden Lockenkopf, der einige Meter neben uns steht und schon die ganze Zeit zu uns herübersieht. Als Enya zu ihm zeigt, winkt er nervös und kommt herüber. Grinsend zwinkere ich ihm zu.

»Er hat vor einigen Wochen mal das Radio mit den Lautsprechern verbunden. Dann lief einen ganzen Tag lang überall in der Schule Musik und es hat bis zum Abend gedauert, bis das Problem behoben wurde. Er ist ein echtes Genie!« Eric schaut grinsend zu Boden und verschränkt seine Arme hinter dem Rücken.

»Wow«, erwidert Theo. »Danke, Enya. Und Eric. Und dir natürlich, Niva.« Er lächelt uns warm an. »Levin hat mir mein Leben seit dem Tod unserer Eltern zur Hölle gemacht. Er hat es immer geschafft, alle auf seine Seite zu ziehen, so lange, bis sogar ich seine Lügen geglaubt habe. Es tut mir so leid, dass auch andere das durchmachen mussten.«

»Das wichtigste ist, dass jetzt alles geklärt ist. Ein für alle mal«, sage ich überzeugt. Theo nickt und Enya legt ihren Kopf gegen meinen Oberarm und greift mit ihrer zierlichen kalten Hand nach meiner.

»Also ich habe noch ein Hühnchen mit diesem Typ zu rupfen«, wirft Tante Louise aufgebracht ein, worauf Enya und ich uns angrinsen. »Und jetzt lasst uns nach Hause fahren«, fügt sie griesgrämig hinzu, während sie bestimmt gerade daran denkt, Levin einen Kopf kürzer zu machen.

»Ja, lasst uns gehen«, sage ich erleichtert und drücke Enyas Hand. Dann sehe ich zu Theo und berühre liebevoll seinen Arm.

»Nach Hause.«

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