»Ich finde sie wunderschön«, schwärmt Louise und legt einen Arm um mich.
»Soll ich ehrlich sein? Ich nicht.« Ich sehe noch einige Sekunden auf unsere Tortenkreation, dann beginne ich zu lachen. »Sie ist unglaublich hässlich.«
Nun prustet auch meine Tante los und lockert ihren festen Griff. »Wir haben es versucht, Liebes. Das ist alles, was zählt.«
Es ist nicht so, dass wir die runde Form oder das Stapeln der Böden nicht hinbekommen hätten. Das schafft Louise natürlich mit Links. Aber die Idee, das Gesicht meiner Mutter mit Schokolade darauf zu malen, war von Anfang an dem Untergang geweiht.
»Sie würde auch darüber lachen«, seufzt Louise, als unser Lachen abgeklungen ist und drückt mich wieder fester an ihre Seite. »Und schmecken tut sie zumindest«, meldet sich Enya zu Wort, die an der Küchenzeile neben uns steht und die Teigreste isst.
»Ich vermisse sie, Louise«, sage ich, während ich auf das verunstaltete Schokoladengesicht meiner Mum sehe. »Ich weiß. Ich auch«, antwortet sie. »Aber sie hat dich in die Welt gesetzt, und dafür bin ich unglaublich dankbar.« Louise sieht zu mir und lächelt mich an. In ihren Augen glitzern Tränen, doch Louise ist zu streng mit sich selbst, als dass sie diesen einfach freien Lauf lassen würde.
Ich schlinge meine Arme um sie. »Danke, dass ihr mich bei euch aufgenommen habt.« Ich habe mich bisher noch nie dafür bedankt. Eher im Gegenteil. Ich hatte Louise und Enya oft gegen den Kopf geworfen, wie unwohl ich mich doch fühlte und was ich alles an diesen Dörfern hasse. Doch dabei habe ich nie das Positive gesehen. Nie meine Alternative bedacht, welche nach Pflegefamilie oder Heim ausgesehen hätte. Zumindest die paar Monate, welche ich noch 18 war. Danach wäre ich alleine gewesen. Ganz alleine.
»Und ich bin dankbar, dass du langsam ankommst«, erwidert Louise. »Bei uns. In deinem Zuhause.« Ich nicke zufrieden.
Es tut gut, Mums Geburtstag zu feiern. Es macht mich nicht endlos traurig, so wie ich es erwartet habe. Es fühlt sich richtig an. Ein wenig befreiend sogar. Natürlich fließen hin und wieder Tränen, vor allem abends oder nachts, wenn es mir schlecht geht. Doch ich gewöhne mich langsam daran, zu akzeptieren. Zu akzeptieren, dass ich nichts ändern kann. Zu akzeptieren, dass ich weiterleben muss, auch wenn meine Eltern es nicht können. Es ist Dezember, und im März wird es schon ein Jahr sein seit unserem Unfall.
Neben unserer Torte liegt eine Geburtstagskarte mit meinen gezeichneten Zwergen. Für einen Moment, stelle ich mir vor, dass Mum gleich reinkommt. Denn genau so sieht es aus. Eine fertige Torte, eine Karte und Kerzen, die im Hintergrund brennen. Für einen Moment wirkt es wie ein normaler Geburtstag. Ihr fünfzigster Geburtstag. Sie hat immer gesagt, sie wolle nicht fünfzig werden, denn die fünf mache ihr Angst. Hätten wir nur gewusst, dass ihr dieser Wunsch gewährt werden sollte.
»Wollen wir sie anschneiden?«, holt mich Louise aus den Gedanken. Und schon bin ich wieder hier. In der altmodischen Küche auf dem Land, nicht in unserer matt-schwarzen Küche im fünften Stock neben der dreispurigen Hauptstraße.
»Ja«, antworte ich. Enya reicht mir ein Messer und ich schneide vorsichtig das erste Stück herunter. Dabei achte ich darauf, nicht direkt durch Mums Schokoladengesicht zu schneiden, das wäre doch zu brutal.
Und tatsächlich schmeckt die Torte. Unsere Gespräche lenken langsam von dem Tod und meinen Eltern ab, sie werden wohliger und lustiger und schließlich schaffen wir es, zusammen zu lachen und einfach diese Zeit zusammen zu genießen.
Als Familie.
»Ich muss nochmal kurz los«, beschließe ich irgendwann. Es ist schon längst dunkel und bestimmt eiskalt. Überrascht schaut Louise mich an. »Soll ich dich fahren?« Ich überlege kurz, dann schüttle ich den Kopf. Dann stehe ich auf, hole eine Brotbox und lege vorsichtig ein Tortenstück hinein. »Dauert nicht lange.«
Ohne noch etwas hinzuzufügen, verlasse die Wohnküche.
Als ich die Haustür verlasse, wähle ich Theos Nummer in meinem Handy. Zwar ist es eiskalt und stockdunkel, doch mein Gewissen zwingt mich, das jetzt zu tun.
»Wie lange brauchst du zum See?«, frage ich Theo ohne Vorwarnung, als er abnimmt. Kurz antwortet er nicht, dann sagt er etwas perplex, aber überzeugt »bin in fünfzehn Minuten da.«
Grinsend lege ich auf und umklammere die Brotbox in meiner einen, die Handytaschenlampe in der anderen Hand. Kein einziges Auto fährt in den zehn Minuten, in denen ich die Landstraße entlanglaufe, an mir vorbei. Dann fängt es ganz langsam an zu regnen, doch ich lasse mich nicht beirren.
Als der See geradeso in Sichtweite ist, erkenne ich den Schein einer anderen Taschenlampe und wenige Schritte später auch schon Theos braune Cordjacke.
»Es hat plötzlich angefangen zu regnen, das hatte ich nicht erwartet«, plappert Theo los, noch bevor er vor mir zu stehen kommt. »Was ist los? Ist etwas passiert?«
Schnell schüttle ich den Kopf und halte ihm die Dose unter die Nase. Er sieht mich verwirrt an, dann öffnet er sie. »Es ist nichts passiert.«
»Dafür bist du hier her gekommen? Im Regen, bei Nacht? Nur um mir ein Stück Kuchen zu bringen? Ich... wow, danke. So etwas hat glaube ich noch nie jemand für mich gemacht.« Er lacht unsicher auf. Ich spüre seine Nervosität deutlich.
»Wirklich: Das hättest du nicht tun müssen. Nicht sollen. Es ist viel zu dunkel und gefährlich, du...«Ich unterbreche Theos ungewohnten Redefluss, indem ich ihm einen Finger vor den Mund halte. »Ich wollte das aber tun. Jeder sollte eine Geburtstagstorte bekommen«, sage ich leise. Er schluckt und sieht mich mit großen Augen an. Der Regen um uns herum ist in den Hintergrund gerückt und wir sind gefesselt von unseren Blicken, die wir nur dank unseren auf den Boden gerichteten Lichtern schwach erkennen können.
»Du hilfst mir, diese Zeit durchzustehen«, sage ich leise. »Danke.«
Theos Augen glänzend und ein Lächeln erscheint auf seinem Gesicht. »Du hättest nichts schöneres sagen können«, antwortet er leise.
Auf der angrenzenden Hauptstraße fährt das erste Auto vorbei. Dann ist es wieder ruhig.
Ich gehe noch einen Schritt auf Theo zu, sodass ich wieder ganz nah vor ihm stehe. Doch es ist nicht wie heute Nachmittag. Ich zwinge mich nicht, zu wiederstehen, ich verleite mich nicht dazu, es lieber nicht zu tun.
Ich tue es einfach. Ich küsse ihn. Ganz sanft und unschuldig, auf die reinste Weise, die nur möglich ist. Und wir küssen uns nicht einmal lange, doch es reicht, um all die Gefühle zu vermitteln, die seit geraumer Zeit in mir herumflattern.
»Wow«, haucht Theo gegen meine Lippen. »Besser als Käsenachos?«, grinse ich und öffne meine Augen. »Und wie«, entgegnet Theo schmunzelnd.
»Bis morgen, Theo. Pass auf dich auf.« Ich lächle ihm nochmal zu, ehe ich den leichten Regen, meine kalten Füße und die Dunkelheit wieder wahrnehme.
»Soll ich dich nicht nach Hause bringen?«, fragt er besorgt, doch ich schüttle vehement den Kopf. »Wer soll dich denn dann den weiten Weg Heim bringen?«
Ich gehe nochmal auf ihn zu, hauche einen Kuss auf seine kalte Wange und drehe mich um.
»Bis Morgen, Niva!«, ruft er mir noch überfordert hinterher. Seine nervöse Unsicherheit zaubert mir ein zufriedenes Lächeln auf die Lippen. »Bis Morgen«, rufe ich über meine Schulter, bevor ich meine Schritte beschleunige und mich wie auf Federn durch die durchwachsene Nacht nach Hause tragen lasse.
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Neuanfang
RomanceNiva zieht nach einem tragischen Autounfall, durch den sie beide Eltern verliert, zu ihrer Tante aufs Land. Die engstirnigen Dorfleute, unter anderem Theo, den sie auf unschöne Weise kennenlernen muss, machen ihr Leben jedoch weiterhin zu einer Tort...