Kapitel 1

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Vorsichtig zog die junge Frau den dünnen Faden durch die Papierlagen und das graue Umschlagpapier. Sie zog den Faden fest und führte die Nadel durch das nächste Loch in den Lagen. Wieder und wieder und wieder. Dann die nächste Lage, Loch für Loch. Noch eine Lage. Und noch eine. Eine Weile arbeitete sie so, bis sie schließlich etliche Lagen geheftet hatte und die beiden Fadenenden miteinander verknotete. Sie griff den dünnen Buchblock, fixierte ihn mit den Schraubklemmen auf dem Tisch vor ihr und schnappte das Papiermesser. Danach legte sie ein Lineal an, bevor sie das Messer aufsetzte und behutsam und doch fest entlang dessen metallener Geraden schnitt.

Hell klingelte ein Glöckchen aus Metall. Einen Augenblick später öffnete sich die hölzerne Tür mit einem Knarzen. Die junge Frau hob den Kopf. Einige haselnussbraune Strähnen fielen ihr ins helle Gesicht.
Ein Mann trat ein. Mit einer Hand fuhr er sich durch das kurze, dunkle Haar. Seine dunklen Augen blickten sie freundlich aus dem hellen Gesicht an. Noch bevor sie ansetzen konnte, etwas zu sagen, hielt sie auch schon inne.
„Ich grüße Sie. Was kann ich für sie tun?", fragte die Stimme eines älteren Mannes, der aus der schmalen Tür hinter ihr trat. Er hinkte an ihr vorbei auf den Unbekannten zu.
Unauffällig schielte die junge Frau zu dem Fremden hinüber, während dieser mit ihrem Großvater sprach. Der Kunde hatte gepflegtes Haar und wache Augen, seine helle Haut war rein und ebenmäßig. Die überwiegend schwarze Kleidung an seinem Körper war sauber und glänzte seidig im Licht. So teure Kleidung trug niemand in dieser kleinen Stadt. Selbst der Stadtverwalter nicht und niemand hier hatte so viel Geld wie er.
Der Blick des Mannes wanderte über die Werkzeuge auf den Tischen und das Bücherregal an einer Wand des kleinen Ladens. Darin reihten sich etliche Bücher aneinander. Groß und klein, lang, quadratisch. Gelbe Einbände oder grüne, ein goldener. Ein Buch war in braunes Leder eingebunden, ein anderes hatte einen offenen Buchrücken, der die kunstvolle Bindung aus feinen, zopfähnlichen Fäden entblößte.
Mit einem stolzen Lächeln beobachtete sie, wie sein Blick bewundernd über die Einbände der Bücher glitt. Die meisten dieser Bücher waren Auftragsarbeiten, die fertig waren und auf ihre Abholung warteten. Und sie alle waren Unikate.
Schmunzelnd wandte sie sich wieder dem Buchblock vor sich zu. Vorsichtig strich sich die abgetrennten Papierstreifen beiseite. Nun, es war kein wirkliches Buch, mehr ein dünnes Heft, aber das war der Wunsch der Kundin gewesen. Ein Heft für Skizzen, wobei es keinen harten Umschlag haben sollte. Aus Gestaltungsgründen – hatte sie erklärt.
Das Heft mit dem simplen Umschlagpapier und den dunklen Lettern schien nur darauf zu warten, dass seine leeren Seiten mit kunstvollen Zeichnungen und Bildern gefüllt wurden. Was die Kundin wohl auf diese Blätter brachte? Landschaften? Porträts?
Bald wird sie was auch immer darauf zeichnen können, stellte Lejara zufrieden fest und legte das Heft auf den leeren, kleinen Holztisch neben sich. Dann wandte sie sich der Arbeitsfläche zu und griff nach den einzelnen Werkzeugen. Sie hob etliche Nadeln auf und legte sie zurück in die kleine Kiste, die sie schloss und über deren dunkle Holzoberfläche strich. Sogleich stellte sie auch diese beiseite. Sie schnappte das Falzbein, ein flaches, längliches Knochenstück mit abgerundeter Spitze, und legte es ebenso auf den Beistelltisch.

„So einen Kodex können wir gerne für Sie binden. Darum wird sich Lejara kümmern." Der alte Herr deutete zu der jungen Frau.
Mit irritierter Miene, aber leichtem Schmunzeln hob sie den Kopf und ihr Blick begegnete dem des Kunden.
Dieser schenkte ihr ein warmes Lächeln und trat ein wenig näher. „Sie binden das Buch für mich?"
Das ist doch schon angeklungen... Sie nickte und ihr Lächeln wurde breiter. „Sehr gerne. Was haben Sie denn genau im Sinn?"
„Nun, ein Teil der Arbeit ist bereits erledigt. Das Buch umfasst etwa fünfhundert Seiten, die bereits von einem Drucker gedruckt worden sind. Es geht tatsächlich nur um die Bindung." Seine dunklen Augen funkelten sie mit Freundlichkeit an. „Der Preis ist für mich nicht von großer Bedeutung. Mir geht es um die Gestaltung, bei der ich Wert auf Qualität lege."
Der Preis spielte keine Rolle? Lejara sah den Mann für einen Moment mit großen Augen an. Weiß er, was er da sagt? So ein Kodex, der fünfhundert Seiten umfasste, konnte äußerst teuer werden... Ein aufwendiger Einband, dann die viele Arbeitszeit allein, um die Lagen alle vorzustechen, von der Bindung selbst ganz zu schweigen...
Sie überspielte ihre Überraschung mit einem höflichen Lächeln. „Wie auch immer Sie sich das Buch wünschen, ich stelle es für Sie her. Wir haben verschiedene Einbandmaterialien und Farben und unzählige Möglichkeiten, dieses zu gestalten. Ich kann für den Einband beinahe jede Farbe wählen, die Ihnen gefällt. Egal, ob geprägt oder nicht, das kann ich ebenfalls erledigen. Genauso kann ich den Einband auch mit Details versehen. Steinchen, Kordeln, was auch immer Ihnen in den Sinn kommt." Sie drehte sich zu dem Regal hinter sich und deutete auf ein dickes Buch in dem Regal, eine Familienchronik. „Hier habe ich einen sehr schlichten Einband in dunklem Ziegenleder hergestellt. Einfach, aber überzeugend. Auch mit den goldenen Lettern auf dem Buchrücken", sie zeigte auf den Einband, „aber das ist natürlich nur ein Beispiel. Denn egal, welche Vorstellungen Sie haben, ich kann sie sicherlich wahr werden lassen." Lejara griff nach einem Stück Papier und nach einem Stift. Fragend sah sie ihn an. „Welche Wünsche haben Sie denn?"
Belustigt schmunzelte er und betrachtete sie für einen Moment, dann neigte er den Kopf. „Morgen überbringe ich Ihnen das Material und werde mir bis dahin eingehende Gedanken über Ihre Vorschläge machen", antwortete er mit einem amüsierten Zwinkern. „Ihre Anregungen sind äußerst wertvolle Hinweise, vielen Dank."
Betreten lächelte Lejara und nickte. „Gerne."
„Dann werde ich wohl in mein Quartier zurückkehren und Sie morgen wieder beehren."
„Darf ich fragen, woher Sie...?" Ein Blick des älteren Mannes ließ sie verstummen, stattdessen lächelte sie verlegen, als sich ihre Wangen rot färbten. „Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Nachmittag und freue mich auf Ihr Wiederkommen."
Er schmunzelte, als er sie für einen Moment zu lange ansah. „Auf Wiedersehen!"

Kaum fiel die Tür hinter dem jungen Mann zu, begegnete Lejaras Blick dem des älteren Mannes. „Hast du eine Ahnung, was für ein bedeutender Kunde er sein kann? Da musst du vorsichtig sein und deine Zunge zügeln! Denkst du, der Mann hat irgendetwas verstanden?"
Sie vermied den Augenkontakt und kehrte den kleinen Haufen Papierreste in den kleinen Korb. „Ich wollte ihm nur zeigen, dass wir ein großes Angebot haben", murmelte sie.
„Ich glaube nicht, dass er sich jetzt besser auskennt. Du musst den Leuten Zeit geben, wenn du sie überzeugen willst!" Resigniert seufzte er. „Ein Verkaufstalent bist du ja nie gewesen. Wir können froh sein, wenn er morgen wiederkommt." Er schlurfte an Lejara vorbei, zurück ins Hinterzimmer, aus dem er gekommen war.

Leise atmete sie durch und sah durch die gläserne Scheibe neben der Tür nach draußen. Diese Seitenstraße war wenig belebt, dennoch fanden die Menschen hierher, um die wertvollsten Wörter hier in teures Gewand hüllen zu lassen. Nicht viele Menschen ließen kostspielige Bücher anfertigen, vor allem nicht hier. Baltina war kein armes Land, aber so tief in der Provinz – weit entfernt von der Hauptstadt – wohnten nicht so viele Menschen, denen Bücher dieses Geld wert waren. Hier las man nur gelegentlich, billige Exemplare reichten. Hier, ja, hier, griff man lieber auf die hastig und schusselig in Filàn produzierten Bücher zurück. Wenn sie ihrem Großvater glauben durfte, waren diese Bücher nicht nur wegen des Inhalts Schund. Die Bindungen seien so trivial, dass die Bücher spätestens beim zweiten Lesen auseinanderfielen. In der Hauptstadt würden die Menschen in Hallen arbeiten und die Seiten mit Leim vollstreichen und zusammenklatschen. Es sei eine lieblose Arbeit. Diese Bücher verdienten es nicht, Bücher genannt zu werden, sie hätten keine Seelen.

Sie schüttelte den Kopf und nahm den eisernen Schlüssel vom Schlüsselbrett. Draußen dämmerte es und es waren keine weiteren Besuche mehr zu erwarten. Heute würde niemand mehr vorbeikommen. Einen Moment hielt sie inne, doch sie erinnerte sich auch nicht daran, dass eine Abholung vereinbart war. Weit abseits der florierenden Hauptstadt gab es keine nächtlichen Einkäufe. Die Menschen in der Provinz gingen nicht nach Einbruch der Dunkelheit einkaufen. Im pulsierenden Filàn gab es Laternen, die durch die darin leuchtenden blauen Kristalle helles Licht aussandten. So hell, dass die Menschen auch des nachts problemlos weiterarbeiten oder einkaufen gehen konnten. Doch bisher waren nur wenige Rohstoffvorkommen bekannt und der blaue Kristall daher sehr teuer. Deshalb gab es ihn in der Provinz kaum.

Das Schloss klickte, als Lejara langsam den Schlüssel darin drehte. Immer noch sah sie nach draußen in die Dämmerung, die die umliegenden Häuser aus dunklem Holz und Stein in Farblosigkeit tauchte. Die schroffen Felsen des nahen Gebirgszugs hoben sich unbeeindruckt und majestätisch in den beinahe schon dunklen Himmel. Seit die Menschen an diesem Ort lebten, waren die Berge da gewesen und sie würden es auch noch sein, wenn es hier niemanden mehr gab. Sie hatten alles gesehen. Als Lejara noch ein Kind gewesen war, hatte Großmutter ihr immer Geschichten über die Berge erzählt. Von guten Geistern, die dort lebten und über die Menschen im Tal wachten. Großvater hatte immer nur gemeint, die Geister würden über die Menschen die Köpfe schütteln und sich lieber den Bergen selbst zuwenden – die würden Liebe mehr zu schätzen wissen. Aber so war Großvater schon immer gewesen.

Lautlos löschte Lejara das warme Licht der Kerze und tappte im dunklen auf das Bett zu. Als sie sich darauf sinken ließ, knarzte und ächzte es. „Das ist wohl das Alter, denn so schwer bin ich nicht", murmelte sie, als sie unter die Decke kroch. Sie drehte sich um, um aus dem kleinen Fenster sehen zu können, und wieder knarzte das Holz.

Draußen schien der helle Halbmond. Ungewöhnlich hell. Großmutter hätte früher gesagt, das seien die Geister. Diese würden den Menschen helfen und ihnen den Weg zeigen wollen. Bestimmt gab es eine plausiblere Erklärung für die starke Helligkeit, die der Mond aussandte. In Filàn würden die Menschen so etwas herausfinden wollen, hatte sie von Albin gehört. Er war Händler und viel unterwegs, aber er kam immer wieder. Dann erzählte er Geschichten aus Filàn – von den Menschen und ihren Erfindungen oder Forschungen. Sie schienen alles wissen zu wollen, untersuchten die Welt um sich herum. Aber das Größte waren wohl die Feste, die sie in Filàn feierten. Mit Lichtspielen und farbenprächtigen Kleidern, viel Musik und guter Laune. Was auch immer man sich wünschte, es gab es in Filàn.

Eines Tages gehe ich dorthin, versprach sich Lejara wie an jedem Abend. Ich will es selbst sehen.

Die unglückliche BuchbinderinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt