Kapitel 6

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Mit einem leisen Seufzen schloss Lejara den Buchdeckel. Es war vorbei. Sie betrachtete den grünen Ledereinband mit den weißen Lettern. Die Sagen Filàns. Finjans Verwandte hatte wohl jede Menge Sagen aus der Region gesammelt, ihm in Briefen geschickt und er hatte sie nun drucken lassen. Und jetzt hatten sie auch ein ansprechendes Kleid. Aber das bedeutete auch Abschied.
Vor ihrem inneren Auge flackerten die Bilder der goldenen Felder vor den bedrohlichen Regenwolken, Finjans sanfter Blick aus seinen dunklen Augen. Sie konnte seine Lippen beinahe auf ihren fühlen. Und wieder stieg Wärme in ihr auf, das Blut schoss ihr in die Wangen und ertappt schlug sie die Lider nieder, obwohl außer ihr niemand im Laden war.

Wenige Momente später ertönte das helle Klingeln des Glöckchens. Erwartungsvoll blickte Lejara auf. In der Tür stand Finjan mit seinem umwerfend charmanten Lächeln und seinem liebevollen Blick.
Sie unterdrückte ein schmachtendes Seufzen und lächelte stattdessen ebenso wie er. Bedächtig schob sie den Holzsessel zurück und erhob sich. „Du bist überpünktlich", stellte sie fest, als sie einen Blick zu der tickenden Wanduhr warf.
„Ich habe es nicht länger ohne dich ausgehalten", gab Finjan zurück und grinste verlegen.
Sie erwiderte sein Lächeln, doch nur für einen Moment. Dann glitt ihr Blick zurück zu dem Buch auf dem Werktisch.
„Stimmt was nicht?"
Sie zuckte mit den Schultern. „Ein fertiges Buch ist eigentlich ein Grund zur Freude", murmelte sie und lächelte schwach, bevor sie zu Finjan sah. „Aber für uns heißt das Abschied."
Auch sein Lächeln verschwand. Er machte etliche Schritte auf sie zu, bis er vor dem Tisch stand. Er legte seine Hände auf ihre und suchte ihren Blick. „Deswegen wollte ich mit dir sprechen."
Sie sah auf. Wieder in diese dunklen Augen, die so anziehend funkelten. So warm, so sanft... Sie zog die Augenbrauen hoch, konnte ihren Blick aber nicht von ihm abwenden.
„Komm mit mir."
„Was?", entwich es ihr und sie biss sich auf die Zunge.
Unsicher lächelte er sie an. „Möchtest du mich begleiten? Ich nehme dich mit auf Feste, zeige dir die Stadt. Mach dir keine Sorgen, ich kümmere mich um Unterkunft und alles, du musst nichts zahlen, du bist meine Gästin und..."
Sie neigte den Kopf und schenkte ihm ein sanftes Lächeln. „Ich kann das nicht so schnell entscheiden", meinte sie leise und senkte den Blick.
„Musst du auch nicht", erklärte er rasch. „Ich bleibe noch ein paar Tage in der Stadt, du kannst es dir noch überlegen."
Sie sah auf.

Nervös knetete Lejara den Saum ihrer Ärmel, während sie im Zimmer auf und ab ging. Immer wieder entwich ihr ein Seufzen, irgendwann ließ sie von ihren Ärmeln ab und trocknete die verschwitzten Handflächen an dem Arbeitsrock ab. „Ich weiß es nicht", flüsterte sie. „Ich weiß es einfach nicht."
„Wenn du gehen willst, werde ich dir nicht im Weg stehen", erklärte der alte Mann und seine Stimme klang schwerer und älter als sonst.
Sie wandte sich zu ihm um und in ihren Augen funkelten die Tränen, als sie ihn ansah. „Ich kann dich hier doch nicht allein lassen", gab sie leise zurück.
Er blickte sie an und seufzte. Schließlich trat er auf sie zu und legte seine Hände auf ihre Schultern. Seinen Blick richtete er auf sie. „Du bist jung." Er lächelte und die Falten um seine Augen wurden tiefer. „Du musst deinen Weg gehen."

Beständig trat Lejara von einem Fuß auf den anderen, spielte mit dem Riemen der Tasche, den sie über die Schulter gehängt hatte und kickte kleine Kieselsteine über die gepflasterte Straße vor der Buchbinderei. Durch ihren Kopf fluteten die Emotionen, die Gefühle prasselten auf sie ein wie die Regentropfen an jenem Tag, an dem der Regen Finjan und sie überrascht hatte. Trauer, Freude, Neugier... das alles vermischte sich zu einem Ziehen in der Magengegend und einem Kribbeln in ihrem gesamten Brustkorb.

Und dann bog er in die Seitengasse der Buchbinderei ein. Finjan trug dunkle Leinenkleidung, schwarze Lederstiefel und ein umwerfendes, breites Lächeln. Ein Lächeln, das Lejara ansteckte, noch bevor sie es merkte. Sie strahlte ihn an, trotz der Schwere, die auf ihren Schultern lag. Zur Begrüßung legte er seine Arme um sie, drückte sie an sich und ihr dann einen sanften Kuss auf den Hals.
Lejara schloss ihre Arme um ihn und sog seinen Duft ein. Eine Weile verharrten sie so, dann löste er sich sanft von ihr. Fragend blickte er sie an. „Bist du so weit?"
Sie stieß die Luft aus und nickte zaghaft. „Ja."
Auf seiner Stirn bildete sich eine Sorgenfalte. „Alles in Ordnung?"
Lejara winkte ab und lächelte schmal. „Es ist einfach nur ein bisschen ein Abschiedsschmerz."
Mitleidig sah er sie an, schließlich griff er nach ihren Händen. „Du musst nicht, wenn..."
„Nein", unterbrach sie ihn milde, aber bestimmt. „Gehen wir."

Kutschen waren eine luxuriöse Art zu reisen, zumindest hatte Lejara das immer gedacht. Doch dieses Exemplar, das Finjan gewählt hatte, holperte und ruckelte über den unebenen Weg und die Sitzbänke im Inneren waren so schlecht gepolstert, dass Lejara nach einiger Zeit bereits das Gesäß weh tat. Zu allem Übel vertrug sie die Fahrt so schlecht, dass sie immer wieder gegen aufkeimenden Brechreiz kämpfen musste. Finjan reichte ihr einen metallenen Kübel, der eigentlich zum Tränken der Pferde gedacht war, strich ihr das Haar aus dem Gesicht und hielt ihr die Stirn, bis die Fahrt nach einer, zwei oder gar drei Ewigkeiten endlich ein Ende gefunden hatte.

Lejara torkelte regelrecht aus der Kutsche und sog tief die kühle Abendluft ein, während sich die Dämmerung bereits über die Landschaft legte. „Was für eine Fahrt", murmelte sie und rieb sich über die Stirn, die immer noch ganz warm von Finjans Hand war. Finjan selbst entlohnte und entließ die Kutscherin mitsamt ihren Pferden, bevor er sich zu Lejara gesellte. Mitleidig musterte er sie. „Du siehst mitgenommen aus."
Gequält lächelte sie ihn an. „In Zukunft gehe ich zu Fuß."
Er zog die Augenbrauen hoch, schmunzelte aber amüsiert. „Wir legen hier die meisten Strecken per Kutsche zurück, weißt du?"
„Hättest du mir das nur vorher gesagt", erwiderte Lejara und seufzte theatralisch, bevor sie ihre Lippen zu einem Grinsen verzog. „Ich werde mich schon dran gewöhnen", fügte sie etwas ernster hinzu, „hoffe ich zumindest."
Er griff nach ihrer Hand und die Berührung jagte ihr eine wohlige, mittlerweile vertraute Wärme durch den gesamten Körper. „Ich kann ja auch versuchen, dich zu tragen", meinte er betont nachdenklich und seine Augen funkelten belustigt.
Sie winkte ab. „Da hättest du keine Freude."
„Ach, nicht?" Blitzschnell ließ er sie los, schnappte sie an Hüfte und unter den Knien und hob sie von den Füßen. Sie quietschte erschrocken, kicherte und drückte sich an Finjans kräftige Brust. „Du bist doch verrückt!"
Er lachte, neigte seinen Kopf ein wenig und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Einige Augenblicke hielt er sie noch so, schließlich seufzte er und setzte sie sanft wieder auf dem Boden ab. Mit einer Hand griff er nach Lejaras, mit der anderen deutete er auf ein Grundstück, das von einem hohen Eisenzaun umgeben war und dessen Ende Lejara von ihrem Standpunkt nicht ausmachen konnte. Nur der üppige Garten mit Sträuchern, Bäumen und Blumen zeichnete sich von hier aus ab. „Lass uns heimkehren. Ich habe dir noch viel zu zeigen." Ohne Zögern griff er mit der freien Hand nach den Beuteln, die er selbst bei sich gehabt hatte, und setzte sich in Bewegung. Lejara umklammerte ihre Tasche fester und drückte Finjans Hand, als sie ihm folgte.

Vor ihnen ragte das weiße Gebäude auf. Es wurde von unzähligen Säulen gestützt und auf seinen zwei Etagen hatte es mehrere Balkone, die mit ihren massiven Balustraden auch im Dämmerlicht und der schwachen Laternenbeleuchtung des Gartens problemlos erkennbar waren. Eine frische Abendbrise trug den Duft der unzähligen Blüten zu Lejara, die gar nicht so recht wusste, wohin sie sehen sollte. Der Kies knirschte unter ihren Schuhsohlen, die leeren Augen der Statuen am Wegrand schienen Finjan und sie zu beobachten.

Lejara brachte Finjan dazu, stehenzubleiben. Ihr Blick glitt einmal mehr über das imposante Gebäude und den weiten Garten, dessen Ende sie immer noch nicht erspäht hatte. „Das ist ja umwerfend", meinte sie.
Leise lachte Finjan. „Freut mich, dass es dir gefällt." Er machte eine ausladende Geste und strahlte sie mit warmem Blick an. „Willkommen in Filàn."

Die unglückliche BuchbinderinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt