Kapitel 10

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Lejaras Füße schmerzten vom bereits zurückgelegten Weg, ihre Hände vom ständigen Hochhalten ihres Kleides, damit sie sich nicht abermals im bereits verdreckten Saum verfing. Das Stadtzentrum Filàns hatte sie gemieden, stattdessen schlenderte sie nun durch die Straßen, durch die sie tagsüber auch schon gestrichen war. Die meisten Geschäfte waren nach Einbruch der Dunkelheit bereits geschlossen, nur noch in wenigen brannte Licht.
Während sie mit einer Hand das Kleid festhielt, zog Lejara mit der anderen den Umhang enger. Trotz der Milde der Sommernacht kroch ihr die Kälte in die Glieder und sie zitterte schwach. Ihre Fingerspitzen konnte sie schon kaum noch spüren, dennoch dachte sie gar nicht daran, umzukehren. Stattdessen folgte sie der Straße weiter durch das Handwerksviertel, an einer der Schmieden vorbei, aus deren Schornstein immer noch Rauch stieg und somit verriet, dass noch jemand an der Arbeit war.
Kurz blieb Lejara neben der Wand der Schmiede stehen und genoss die angenehme Wärme, die das Gestein abstrahlte. Dann bewegte sie sich weiter. Irgendwo bellte ein Hund, aus einer anderen Richtung hörte sie Gelächter und das Klirren von Gläsern. Hinter ihr quietschte eine Türe, doch Lejara ging unbeirrt weiter.
„Mädchen, warte!", rief eine krächzende Stimme.
Lejara zuckte zusammen, zwang sich aber dennoch, einen Blick über die Schulter zu werfen. Eine Frau, die ihr gerade mal bis zum Kinn reichen würde, stand in der Tür einer Schneiderei. Sie trug eine einfache Arbeitskutte und hatte ihr weißes Haar hochgesteckt. Auf ihrer Nase saß eine kleine Brille. Ihre Augen richteten sich direkt auf Lejara, ihre Stirn hatte sie in Falten gelegt. „Du solltest nachts hier nicht allein herumspazieren", meinte die Frau und winkte Lejara herbei. „Komm lieber rein, hier ist es warm und sicher."
Einen Moment zögerte Lejara. Sollte sie wirklich...? Sie straffte die Schultern, die bereits von einer Gänsehaut überzogen waren, und nickte. Dankbar lächelte sie der Frau zu, hob ihr Kleid einmal mehr an und stakste an der Unbekannten vorbei in den Laden.

Im Inneren war es deutlich wärmer und Lejara atmete beinahe erleichtert auf. Die Fremde bedeutete ihr, auf einem an die Wand geschobenen Hocker Platz zu nehmen, brachte ihr eine Tasse Tee und ließ sich daneben an einem niedrigen Holztisch nieder. Vor ihr auf dem Tisch lag ein unförmiges Gebilde aus grünem Stoff, das die Frau sogleich wieder in die Hand nahm. Beiläufig griff sie nach einer Nadel, fädelte einen grünen Faden hindurch und stach in den Stoff. Eine Weile setzte sie so Stich für Stich, um ihre Naht fortzuführen, und Lejara sah ihr einfach dabei zu. Beinahe konnte sie selbst die Buchbindernadel wieder in ihren Fingern fühlen, den Geruch von Papier in der Nase...
„Weißt du, Mädchen", begann die Schneiderin mit leicht krächzender Stimme, „Filàn mag eine grundsätzlich sichere Stadt sein, aber hier, auf unseren Straßen..." Sie stach mit der Nadel durch den grünen Stoff und wandte den Blick nicht davon ab. „Hier ist es nicht so ungefährlich für junge Mädchen wie dich, schon gar nicht, wenn sie wie du den Eindruck erwecken, Geld zu haben."
Lejara runzelte die Stirn. „Wie erweckt man denn diesen Eindruck?", fragte sie nachdenklich.
„Dein Kleid", antwortete die Frau ohne Zögern und setzte den nächsten Stich. „Du magst zwar einen Umhang tragen, aber er verbirgt dein Kleid nicht gänzlich. Und dein Kleid sieht auch für Unkundige nach Geld aus."
Lejara sah an sich herunter. Der Umhang teilte sich etwa auf Höhe ihrer Hüfte und darunter schimmerte der längere Rock des violetten Kleides durch. „Das war mir nicht bewusst. Ich dachte, in Filàn wäre sowieso an jeder Straßenecke ein Wachposten."
„Das mag schon sein, aber die Hälfte von denen ist korrupt", knurrte die Schneiderin. „Die schauen nur hin, wenn sie hinschauen wollen."
Lejara schluckte. „Dann danke fürs Hereinholen." Sie lächelte schmal und knetete ihre Finger.
„Kein Problem, Mädchen", brummte die Frau und zischte kurz leise, als sie sich in den Finger stach. Einen Moment blickte sie die Nadel mit verärgerter Miene an, bevor sie ihre Arbeit fortsetzte. „Warum treibst du dich überhaupt um diese Zeit da draußen herum?"
Lejara knetete ihre Finger fester und senkte den Blick auf ihre Hände. „Ich hatte Streit. Mit meinem Partner." Sie biss sich auf die Lippe.
Die Schneiderin sah auf und bedachte Lejara mit einem mitleidigen Blick. „Sowas ist immer schwierig..." Sie seufzte. „Erzähl mir doch davon. Manchmal kann eine Fremde besser zuhören als alle, die du wirklich kennst."
Einen Augenblick lang sah Lejara sie zweifelnd an, schließlich nickte sie. „Ich bin nicht von hier", begann sie und die Schneiderin nickte. „Eigentlich komme ich aus Nion, aus der Provinz. Ich habe ihn kennengelernt und bin mit ihm nach Filàn gekommen. Aber ich vermisse meine Arbeit. Sie müssen wissen, ich war Buchbinderin in Nion. Viel haben mein Großvater und ich uns nie leisten können, aber es hat immer gereicht. Jetzt versorgt mich mein Partner mit allem, was ich mir auch nur wünschen könnte, aber irgendwas fehlt."
Die Frau nickte schweigend und vernähte den Faden in dem Stoffstück vor ihr.
Lejara seufzte und unterdrückte die aufkommenden Tränen, als sie Finjans Gesicht vor Augen hatte. „Ich liebe ihn", flüsterte sie leise. „Aber ich weiß nicht, wie ich das aushalten soll." Wieder hallten seine Worte durch ihren Kopf. Sie würde ihre Arbeit nicht mehr lange vermissen, sie musste Teliza auch verstehen... „Er versteht mich einfach nicht", fügte sie kaum hörbar hinzu.
Die Schneiderin hob den Kopf und blickte Lejara unverwandt an. Eine Weile schwieg sie einfach, schließlich durchtrennte sie den Faden mit der Schere und ließ die Nadel auf den Tisch sinken. „Es ist selten einfach mit der Liebe", brummte sie. „Und noch seltener mit dem eigenen Glück."
Lejara nickte. Das kannst du laut sagen.
„Aber wir müssen tun, was uns glücklich macht", fuhr die Schneiderin fort. „Wenn du dich an diesen Mann bindest – und wenn du ihn noch so liebst – musst du deine Buchbinderei aufgeben, oder nicht?"
Wieder nickte Lejara.
„Aber du liebst die Buchbinderei ebenso?"
Noch ein Nicken.
„Dann musst du tun, was dich glücklich macht. Lass dir nicht deine Flügel nehmen und dich in einen Käfig sperren, weil dir der Besitzer des Käfigs so gut gefällt." Sie seufzte. „Wenn du dein Handwerk liebst, brauchst du es wie die Luft zum Atmen."
„Aber ich brauche ihn doch auch", hauchte Lejara und sah die Schneiderin verzweifelt an. „Und ich kann nicht beides haben..."
„Folge deinem Gefühl, auch, wenn das heißt, dass du gehst." Die fremde Frau sah sie lange an. „Aber wenn du sagst, er versteht dich auch nicht – wie oft willst du es ihm noch erklären, bis es genug ist? Wenn er dich liebt, dann wird er deinem Glück nicht im Weg stehen. Und wer weiß? Vielleicht steht euch doch noch eine gemeinsame Zukunft offen. Wenn auch vielleicht anders, als du jetzt denkst."

Die Sonne war noch nicht aufgegangen, würde noch länger nicht aufgehen, aber die anbrechende Dämmerung, die der Welt zögerlich ihre Farben zurückgab, kündigte den neuen Tag bereits an. Lejara bedankte sich mehrmals bei der Schneiderin für ihr offenes Ohr und ihre Fürsorglichkeit, bevor sie aus der Schneiderei trat und die Tür hinter ihr zufiel. Noch während sie sich in Bewegung setzte, klickte hinter ihr leise das Schloss, als die Frau die Tür absperrte.

Es war deutlich kühler als noch am Abend und Lejara zitterte stärker, als sie beim Anwesen ankam. Die diensthabende Wächterin ließ sie wortlos eintreten und Lejara zog sich leise auf ihr Zimmer zurück. Dort war die Luft wohlig warm und der Raum wurde schwach von Kerzen erleuchtet. Er hat mich erwartet. Der Gedanke versetzte Lejara einen Stich und sie schlug für einen Moment die Augen nieder, bis sich der Schmerz wieder verflüchtigt hatte. Dann legte sie ihren Umhang ab und hängte ihn über die Lehne eines Sessels. Sie streifte das Kleid ab und tat dasselbe damit. Die Sandalen hatte sie ebenso schnell ausgezogen und so schlüpfte sie wenige Minuten nach ihrer Ankunft ins Bett.

Doch der Schlaf wollte sie noch lange nicht rufen. Obwohl ihre Glieder bleiern waren und vor Erschöpfung schrien, rasten die Bilder vor ihren Augen, sobald sie sie schloss. Sie sah Finjan vor sich, sein Lächeln, das Funkeln seiner Augen. Sie hatte seine sanfte Stimme in den Ohren oder fühlte seinen Atem beinahe auf ihrer Haut.
Sie schluckte.
Ihre Gedanken glitten weiter zur Buchbinderei ihres Großvaters, in der schon bald der Tag anbrechen würde. Papier und Buchbindeleim, Nadel, Faden... All das wartete dort auf sie. Und Großvater, der zwar immer streng gewesen war, aber ihr auch immer beigestanden hatte.
Die Worte der Schneiderin drangen wieder in ihr Bewusstsein und Lejaras Zunge hätte am liebsten aufgeschrien.
Ich muss es tun, sagte Lejara sich. Ich muss eine Entscheidung treffen. Wieder schluckte sie. Denn wenn sie so dalag und darüber nachdachte, wurde ihr eines klar. „Ich habe doch längst entschieden", flüsterte sie in den Raum hinein.

Die unglückliche BuchbinderinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt