003 - Kapitel 1.1

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Mit festem Schritt lief die junge Frau die verschneiten Treppenstufen hinauf. Ihr Blick war auf die frischen Fußabdrücke gerichtet, die ihren Weg hinab gesucht hatten. Sie drehte sich um und schaute dem Mann hinterher, der ihr kurz zuvor entgegengekommen war. Sie musste noch immer schmunzeln über seine Aussage, denn das Unglück hatte sie schon lange gefunden.

Holly zog ihre Mütze vom Kopf und wischte den frischen Schnee von den Jackenärmeln. Ein eisiger Windstoß wehte durch die fast verlassene Straße, der sich einen Weg durch jede Pore ihrer Kleidung zu suchen schien.

Sie zögerte einen Moment, bevor sie die Hand auf die Türklinke legte und sie herunterdrückte. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, nach New York zu ziehen? War es die richtige Entscheidung gewesen? Unsicher trat sie ein, in die urige, nach altem Holz und Unglück riechende Kneipe. Der junge Barkeeper schien über ihr plötzliches Erscheinen alles andere als erfreut zu sein. Griesgrämig stand er da. In der Hand ein Whiskeyglas, über die Schulter ein Geschirrtuch gelegt.

*

Kayden fasste sich schnell, als er den neuen Gast in der Tür stehen sah und stellte sein Glas auf dem Tresen ab. So früh hatte er noch nicht mit weiterer Kundschaft gerechnet; um diese Uhrzeit saß meist nur Peter an dem Tisch in der Ecke mit der flackernden Lampe und versuchte seiner Schreibmisere zu entkommen.

»Ich hoffe, ich störe nicht!«, rief die junge Frau in den Raum hinein, während ihr Blick durch die dunkle Bar schweifte. Wild zusammengewürfelte Tische und Stühle standen eng beieinander. Kein Stuhl passte zum anderen. In der Ecke eine in die Jahre gekommene Couch. An den dunklen Wänden hingen Lampen und Regale mit verstaubten Büchern, Gesellschaftsspielen, Kerzen und Antiquitäten. Gerahmte Poster von verschiedenen Events und irischen Nationalfeiertagen, hingen neben der großen Theke, die gefüllt war mit Reihen von Spirituosenflaschen. Dahinter stand Kayden. Mit verschränkten Armen schaute er den unerwarteten Gast an und schwieg. Nur das laute Ticken der Wanduhr war zu hören.

Er zog die Augenbrauen erwartungsvoll in die Höhe. Doch bevor er auch nur ein Wort herausbringen konnte, fing der Rotschopf mit den vielen Sommersprossen an zu reden.

»Ich heiße Holly. Bin neu hergezogen. Ich weiß, vollkommen verrückt, wenn man sich das Wetter anschaut. Ist es eigentlich immer so kalt hier? Egal, kurz gesagt wollte ich fragen, ob hier eine Stelle als Kellnerin frei ist. Ich habe früher in Chicago - da wo ich ursprünglich her bin - während des Studiums in einer Bar gearbeitet. Erfahrung hätte ich. Zumindest ein wenig. Ausreichend würde ich sagen« Sie beendete ihre Ansprache, die zum Ende hin immer leiser wurde. Ihre Euphorie fand hier keinen Platz.

»Mein Beileid, aber wir brauchen niemanden«, gab Kayden zurück und griff wieder nach seinem Glas. Erst jetzt, als sie näher zum Tresen kam, bemerkte er ihr hübsches, von der Kälte rosafarbenes Gesicht mit den naiv blauen Augen.

»Beileid?«, fragte Holly.

»Ich hasse diese Stadt«, gab Kayden trocken zurück. Warum suchte eine so hübsche Frau wie Holly ausgerechnet in seiner Kneipe nach Arbeit? Vor seinen Augen tauchten seine beiden Kollegen auf, die meist die schlechte Laune mitbrachten, sobald sie die Türschwelle überschritten. Er konnte sich Holly kaum unter ihnen vorstellen.

Holly zuckte mit den Schultern und fügte hinzu: »Schade. Ich bin gegenüber der Bar neu eingezogen. In das Haus Nummer 44. Das mit der blauen Fassade. Nun, ich denke, sie war mal blau, jetzt ist es eher... grau. Es müsste mal gestrichen werden.«

»Verstehe«, gab Kayden nur zurück. Er verstand nicht.

Er wusste, dass er eigentlich jemanden hätte gebrauchen können, der ihm ein wenig die Arbeit abnahm. Doch wollte er sich nicht beschweren. Der Pub war das Einzige in seinem Leben, das irgendwie einen Sinn für ihn hatte.

Holly drehte sich zur Tür um. »Vielleicht sieht man sich!«, rief sie ihm noch über die Schulter hinweg zu und zog sich die Mütze über den Kopf. »Schließlich wohne ich gegenüber. In dem Haus mit der blauen ...«

»... Fassade. Ich weiß schon«, beendete er ihren Satz, bevor die Tür ins Schloss fiel.

Einen kurzen Moment verharrte er in seiner Position. Den Blick starr auf die Tür gerichtet. Das Geöffnet-Schild noch immer hin und her baumelnd.

Er schloss die Augen, nahm einen letzten Schluck aus seinem Glas und verließ schnellen Schrittes die Theke. Den gewohnt bitteren Geschmack des Whiskeys spürte er noch auf den Lippen, als er die Tür nach außen öffnete.

Ein kalter Windstoß blies ihm entgegen. Er hasste diese Stadt wirklich. 

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