❗️trigger warning: mention of physical and mental abuse❗️ Nicht detailliert und auch nur kurz angedeutet, aber wenn ihr mit solchen Themen nicht gut umgehen könnt und es wisst, bitte ich euch, an dieser Stelle nicht weiterzulesen. Wenn ihr Hilfe braucht, wendet euch bitte an jemanden. Telefonseelsorge Deutschland: 0800-1110111 Telefonseelsorge Österreich: 142 oder 147 Telefonseelsorge Schweiz: 143 oder 147 (Nicht wundern: Das sind bundesweite Rufnummern, also so wie die der Polizei oder Feuerwehr.)
— 01. APRIL: MILA 🎞🩰🌪
„ all that i did to try to undo it all of my pain and all your excuses i was a kid but i wasn't clueless "
Hoppla! Dieses Bild entspricht nicht unseren inhaltlichen Richtlinien. Um mit dem Veröffentlichen fortfahren zu können, entferne es bitte oder lade ein anderes Bild hoch.
STUTTGART. 2013. Draußen scheint die Sonne. Kein Wunder, denn es ist Mitte Juli. Trotzdem ist Mila nicht mit ihren Freundinnen mit dem Fahrrad ins nächstgelegene Schwimmbad gefahren, denn ihre Eltern sind der Meinung, dass die Grundschülerin in den Sommerferien noch einmal allen Stoff wiederholen sollte, bevor sie in weniger als einem Monat endlich das Gymnasium besuchen darf. Mila versteht das nicht. Sie ist immer die Beste, in Deutsch, in Englisch, sogar in Mathe, obwohl sie das gar nicht mag. Und die Eltern der anderen Kinder sind schließlich auch nicht zu dem Schluss gekommen, den ihre eignen gefasst haben; obwohl ihre Mitschüler immer, immer schlechtere Noten bekommen als sie.
Überhaupt, Mila ist wohl in allen Bereichen die absolute Überfliegerin. In der Schule ist sie in der Forscher-AG, in der Theater-AG und hat auch jedes Mal denn alljährlichen Malwettbewerb gewonnen, ohne Ausnahme. Nach der Schule geht sie entweder zum Ballett oder in den Klavierunterricht. Natürlich, nachdem die Hausaufgaben erledigt sind, auch die freiwilligen, und nachdem Mama auch alles nach Fehlern kontrolliert hat. Wenn dann eine Klassenarbeit ansteht muss Mila mindestens zwei Wochen vorher mit dem Lernen anfangen, ebenfalls unter den wachsamen Augen ihrer Mutter. Da bleibt keine Zeit für Freunde. Fast nie.
Auch jetzt, wo Sommerferien sind — Mila hat ihre beste Freundin Sophie seit mindestens einer Woche nicht mehr gesehen. Und das, obwohl die beiden eigentlich am liebsten so gut wie jeden Tag gemeinsam im großen Garten der Familie spielen würden. Mama und Papa sagen, dass sie vorbereitet sein muss; dass das Gymnasium so viel schwieriger werden wird als die Grundschule und, dass sie auf gar keinen Fall akzeptieren werden, dass ihre Tochter nicht in jedem Fach Klassenbeste ist.
Aber selbst das scheint ihnen nicht genug zu sein. Mila kann sich nicht an das letzte Mal erinnern, an dem ihre Eltern sie in den Arm genommen und sie für eine gute Note gelobt haben. Oder dass sie ihr einen Kuss gegeben und ihr gesagt hätten, wie stolz sie auf ihre einzige Tochter sind.
Bei Milas Cousine Leo — eigentlich heißt sie Leonie, aber sie mag den Namen nicht besonders — ist das ganz anders. Leos Eltern haben sich ganz dolle gestritten und jetzt wohnt sie nur noch bei ihrer Mama. Aber ihre Mama hat sie ganz doll lieb und sie sagt Leo das auch. Überhaupt sind die beiden sowieso zu zweit viel glücklicher als mit dem Papa, der immer abends nur herumgeschrien hat.
Milas Papa schreit auch viel herum. Aber ihm ist es egal, ob abends oder morgens. Er schreit einfach viel. Und meistens geht es darum, dass Mila etwas falsch gemacht hat. Oder dass sie zu unordentlich angezogen ist, dass sie unappetitlich isst oder dass sie seinen Anforderungen nicht gerecht geworden ist. Denn davon hat er viele.
Mama schreit Papa nur an, wenn es schon ganz spät ist und er denkt, dass Mila im Bett ist und schläft. Aber sie hört jedes verletzende Wort, das die beiden sich gegenseitig an den Kopf werfen. Manchmal denkt sie, dass es besser wäre, wenn die beiden sich auch trennen würden. Wie Leos Eltern. Dann würde Papa nicht mehr so viel schreien und Mama müsste nicht mehr so viel weinen. Das tut sie nämlich, wenn sie denkt, dass es keiner mitbekommt.
Aber Mila bekommt alles mit. Mila bekommt es mit, wenn Mama zu Papa sagt, dass er nicht immer so spät nach Hause kommen soll und wenn sie ihn fragt, ob er bei einer anderen Frau war. Und Mila bekommt es auch mit, wenn Papa dann immer lauter wird und sich bedrohlich vor ihrer Mama aufbaut. Und Mila bekommt es auch mit, wenn ihre Mama dann auf einmal ganz still wird und sich am nächsten Morgen Schminke auf die blauen Flecken schmieren muss.
Und Mila weiß vor allem anderen ganz genau, dass das nicht normal ist. Dass sie keine normale Familie hat. Und sie auch niemals haben wird. Und sie weiß auch, dass ihre Eltern sich schon lange nicht mehr lieben. Und sie weiß, dass kein anderes Kind in ihrem Alter sich solche Sorgen machen muss.
Denn Mila ist erst zehn Jahre alt. Wenn man zehn Jahre alt ist, sollte man nicht den ganzen Tag damit verbringen müssen, an seinem Schreibtisch zu lernen und Übungsaufgaben zu machen. Man sollte draußen sein dürfen und mit seinen Freunden spielen können. Wenn man zehn Jahre alt ist, sollte man nicht jedes Mal zusammen zucken, wenn man eine laute Männerstimme hört. Man sollte seinen Papa lieb haben. Und ihm vertrauen. Wenn man zehn Jahre alt ist, sollte man nicht im Balettunterricht stundenlang seine Übungen ausführen müssen, bis sie perfekt sind. Man sollte rennen dürfen, mit offenen Haaren und sich frei fühlen können. Wenn man zehn Jahre alt ist, sollte man nicht fast jedes Wochenende ein Klavierkonzert geben müssen, egal wie talentiert man sein mag. Man sollte am Wochenende Oma und Opa besuchen dürfen, mit ihnen Märchen lesen und Brettspiele spielen und sein Lieblingsessen kochen und mit ihnen kuscheln. Wenn man zehn Jahre alt ist, sollte man nicht seine Mama trösten müssen, wenn sie weint, nur um dann ein paar Minuten später auf seinem Zimmer eingesperrt zu werden. Eltern sollten ihre Kinder niemals einsperren.
Mila weiß all das. Weil andere Kinder all das dürfen. Nur sie, sie darf es nicht. Und sie weiß nicht einmal warum. Sie hat sich immer solche Mühe gegeben, schnell mit den Hausaufgaben fertig zu sein, damit sie vor der Klavierstunde noch mit dem Nachbarsjungen spielen darf. Sie hat sich immer solche Mühe gegeben, die beste Note in der Mathe-Klassenarbeit zu schreiben, damit Mama gut gelaunt ist und Papa nicht mehr so streng beim Lernen für die nächste Klassenarbeit. Sie hat sich immer solche Mühe gegeben, besonders klug, besonders lieb und besonders — einfach besonders zu sein. Aber vielleicht ist sie das ja gar nicht. Und genau das mögen ihre Eltern nicht an ihr. Genau das, ist nicht richtig.
Mila hat nie etwas Falsches getan. Und trotzdem wird ihr jeden Tag das Gefühl gegeben, als hätte sie genau das.
— a/n i'm sorry dass dieses erste update erst so spät kommt, hab's kinda verpennt wenn ich ganz ehrlich sein soll, aber das wird sich die nächsten tage auch noch einpendeln