5. Von fehlender Schlagfertigkeit

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Ich spüre seine Abwesenheit mit jeder Faser meines Körpers. Seine fehlende Präsenz fühlt sich an, als hätte mir jemand mein Herz herausgerissen, es in einen Mixer geworfen, einmal durchgequirlt und es dann wieder in meine Brust gestopft. Traurig starre ich auf den verwaisten Stuhl neben mir, während die Lehrkraft irgendetwas von verschwundenen Leuten aus Ocean's End labert und wir uns nachts nicht mehr alleine rumtreiben sollen.

Das ganze restliche Wochenende über habe ich mich zusammenreißen müssen, damit ich nicht zum Nachbarhaus hinüberschaue. Dennoch konnte ich mich nicht immer zurückhalten und habe den Vorhang vorsichtig zur Seite geschoben und hindurchgespäht. Viel sah ich nicht. Die Autos waren aus der Garage herausgefahren worden und ich sah Adrians Eltern, die einige Schachteln in ihre Autos stopften. Nicht zum ersten Mal wunderte ich mich, wie jung die Grigoris aussehen. Kaum älter als dreißig. Herr Grigori war sehr blass und blond, hat langes gelocktes Haar, dass er, wie Adrian auch, zu einem Zopf am Hinterkopf gebunden hat. Seine Mutter hingegen war dunkelhäutig und hatte gekräuseltes, kurzes Haar. Sie trug ständig Hosenanzüge, oder eben ihren langen Umhang, in dem sie wie zu Fasching verkleidet aussieht.

Die Gene seiner Mutter sind bei Adrian wohl gar nicht durchgekommen, so blass wie er ist.

Fast habe ich damit gerechnet, dass er sich noch von mir verabschieden würde. Wie eine Besessene habe ich am Sonntagabend vor der Haustüre herumgetänzelt und immer, wenn ich auch nur das leiseste Geräusch hörte, hechelte ich zur Haustüre und riss diese auf. Aber vergebens – er hatte sich nicht einmal von mir verabschiedet. Diese Erkenntnis traf mich um zehn Uhr abends mit voller Wucht. Endlich wagte ich es, die Vorhänge meines Zimmers wieder ganz aufzuziehen und mit Tränen in den Augen starrte ich das Nachbarhaus an. Kein Licht brannte mehr, kein Auto stand mehr in der Einfahrt und wahrscheinlich auch nicht in der Garage, aber das konnte ich von meiner Warte aus nicht erkennen.

Am nächsten Morgen wachte ich wie gerädert auf, quälte mich ins Badezimmer und erschrak über mein kreidebleiches Gesicht, gezeichnet von tiefen Augenringen, geröteten Augen und wirrem Haar.

„Verdammt siehst du scheiße aus", murmelte ich. Kurz spielte ich mit dem Gedanken, mich noch zu duschen, Haare zu waschen und Make up aufzulegen, aber dann dachte ich mir, für wen eigentlich? Adrian war fort, also brauchte ich mich auch nicht mehr für ihn aufhübschen. Denn waren wir mal ehrlich – das ganze letzte Jahr über war er der einzige Grund für meine Schminksessions im Bad gewesen.

Und nun sitze ich in der Schule und starre wie eine Geisteskranke den leeren Platz neben mir an. Seine Abwesenenheit war überall spürbar: Die Sonne hat sich verdüstert, Wolken trüben den heutigen Tag, die sonst immer leicht salzige Luft vom Ozean her riecht heute eher schal und generell erscheint mir heute alles trüber und grauer und ...

„Guten Morgen, Valerie", begrüßte mich Adrian und zog sich seinen langen Mantel aus, den er mit einem geschickten Handgriff zusammenfaltete und über seine Stuhllehne hängt. Dann lässt er sich in einer schwungvollen Bewegung auf den Stuhl gleiten und dreht seinen Kopf in meine Richtung. Mit einem ausdruckslosen Blick nickt er mir zu.

Ist das sein verdammter Ernst? Leide ich unter Wahnvorstellungen? Ist das eine Fata Morgana? Hat mir meine Mutter heute früh Drogen ins Müsli gemischt? Ist das Schulgebäude Asbest verseucht und ich erleide gerade ein multiples Organversagen?

Nein, er ist real. Als hätte es unser Gespräch am Samstag nicht gegeben, sitzt er lässig neben mir und kramt in seiner Tasche das Geschichtsbuch hervor. Fassungslos beobachte ich ihn dabei, wie er nun auch noch seinen Füller, sein Lineal und einen farbigen Fineliner herausholt und es oben rechts am Tischrand anordnet, wie jeden Schultag.

Als er damit fertig ist, sieht er mich nochmal an und zieht eine Augenbraue hoch.

"Geht es dir gut? Du siehst etwas blass aus", will er von mir wissen. Ich muss einmal schwer schlucken und setzte zu einer möglichst schlagfertigen Antwort an, aber ich bin nicht schlagfertig. Nicht einmal wenn ich einen ganzen Tag Zeit hätte, um mir eine passende Erwiderung einfallen zu lassen, würde ich keine finden. Daher schließe ich wieder meinen Mund und weiche fortan seinem Blick aus.

Wir haben eine Doppelstunde Geschichte und eigentlich ist es eines meiner Lieblingsfächer und ich beteilige mich rege, aber heute schaue ich kein einziges Mal von meinem Buch auf. Natürlich spüre ich seinen Blick auf mir, er brennt sich ein, aber ich bleibe standhaft.

Das ganze Wochenende habe ich geweint wegen ihm und jetzt tut er so, als wäre das alles nur ein Witz gewesen.

Als es endlich zur Pause läutet, wische ich meine ganzen Materialien, die auf dem Tisch liegen, in einer schnellen Bewegung in meinen Rucksack. Dabei ist mir egal, dass die beschriebenen Blätter jetzt geknickt sind und dass mein Kugelschreiber irgendwo in den unendlichen Tiefen meiner Tasche verschwindet. Hauptsache raus hier.

„Valerie, warte doch einen Moment", höre ich noch seine Worte nachhallen, aber ich stürme aus dem Klassenzimmer, als wären die Bibelforscher persönlich hinter mir her.

Atemlos komme ich in der Mensa an und kaufe mir erst einmal einen doppelten Espresso – den kann ich gebrauchen. Mit dem Pappbecher in der Hand laufe ich durch die Mensa hinaus auf die Terrasse, die um diese Jahreszeit verwaist ist. Es ist recht windig und es nieselt leicht. Aber wenn man um die Ecke geht, ist dort ein überdachter Platz und dort setze ich mich in die hinterste Ecke und ziehe mein Handy hervor.

Mit zitternden Fingern entriegele ich es und gehe gleich auf Instagram, um Adrians Account zu stalken. Leider tue ich das oft, auch wenn ich mir jedes Mal schwöre, es nie wieder zu machen. Denn es tut verdammt weh, ihn so anzuhimmeln. Zudem scrolle ich immer die Kommentare durch und schaue wer auf Gefällt mir geklickt hat. Ich bin wirklich erbärmlich.

Sein Profil ist nicht gerade aufregend. Er hat nur ein einziges Bild drin, auf dem er einigermaßen erkennbar ist. Es zeigt ihn bei der Weihnachtsfeier letztes Schuljahr, wie er lässig neben der Band steht und dabei seinen Hut (ja, er trug damals wirklich einen Hut) gegen die Brust gedrückt hat. Das Foto habe ich aufgenommen und es hat mich irrsinnig gefreut, dass er es als Profilbild hergenommen hatte.

Die anderen Bilder sind nur irgendwelche Zitate von Ernest Hemingway, seinem Lieblingsautor und Landschaftsbildern. Er hat auch nur 40 Follower und folgt selbst nur zehn Leuten.

Es ist kein neues Foto dazugekommen, das hätte es mir wahrscheinlich auch auf der Startseite mitgeteilt. Aber zum ersten Mal werde ich auf ein Profil aufmerksam, der bei fast jedem Bild auf Gefällt mir geklickt hat: Lucian G.

Lucian Grigori, das ist sein Bruder.

Seufzend lege ich irgendwann das Handy wieder weg und nippe an meinem inzwischen kalten Espresso. Die nächsten Stunden schwänze ich tatsächlich, obwohl mir das gar nicht ähnlich sieht. Adrian ruft mich zweimal an und schreibt mir am Ende eine Nachricht: „Wo bist du?".

Eine Antwort bleibe ich ihm schuldig, genauso, wie er mir Antworten schuldig bleibt.

Zur letzten Schulstunde zwinge ich mich zurück ins Schulgebäude, denn der Englischlehrer führt eine strenge Anwesenheitsliste und ich möchte nicht nachsitzen müssen, wegen unentschuldigtem fehlen.

Nervös sitze ich schon auf meinem Platz und warte, bis Adrian den Raum betritt. Da ich die Kurse davor geschwänzt habe, bin ich überpünktlich da. Als er das Klassenzimmer betritt, halte ich den Atem an.

Sein Blick findet den meinen sofort und ohne einmal zu zwinkern setzt er sich schließlich neben mich und rückt seinen Einzeltisch nah an den meinen.

„Hast du dich inzwischen wieder beruhigt?", will er wissen. Stumm nicke ich. Im Geiste denke ich mir, dass es sowieso keinen Sinn hat, weiter zu schmollen. Er wird mir schon eine Erklärung geben, wieso er noch da ist. Zudem weiß er ja – hoffentlich- nicht, wie sehr mich sein Fortgang aus der Bahn geworfen hat. Mein vorheriges Verhalten muss für ihn daher etwas befremdlich gewesen sein.

Nach der Stunde bin ich es dann auch, die ihn anspricht.

„Wieso bist du doch noch da?", will ich von ihm wissen.

Er seufzt und fährt sich mit seiner rechten Hand durch seine Haare.

„Ich habe dir das Versprechen gegeben, dass wir zusammen an deinem Geburtstag etwas unternehmen und ich halte mein Wort".

Don't kill me Darling (Dark Romance)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt