12. Von leichtgläubigen Menschen

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* Adrian

Sie hat mich heute im Unterricht die ganze Zeit über erfolgreich ignoriert und ich sitze ja direkt neben ihr. es war also ein Meisterstück von ihr.

Nicht jeder schafft es, so verbissen nach vorne zu starren und gar nicht den Blick abzuwenden. Ich habe sie gelassen. Nach der Blamage gestern ist es wahrscheinlich besser, wenn ich sie erst mal das machen lasse, was sie glaubt, dass es ihr am besten tut.

Am späten Nachmittag, es ist bereits dunkel, kann ich mich nicht länger zurückhalten. Seit einer Ewigkeit beobachte ich sie dabei, wie sie mich beobachtet.

Daher beschließe ich, ihr vorzuschlagen, an den Strand zu fahren.

Als sie mir ewig nicht darauf antwortet, habe ich kurz die Befürchtung, dass sie mich noch weiter ignoriert. Aber ein Blick zum gegenüberliegenden Fenster bestätigt mir, dass sie auf ihr Handy starrt und wartet, ob ich nochmal etwas schreibe.

Dass ich sie am Ende auch noch in Unterwäsche sehe, war definitiv nicht geplant. Aber der Anblick war nicht abstoßend, ganz im Gegenteil. Dass ich ihre Unterwäsche mit Blümchenmuster gesehen habe, werde ich ihr natürlich nicht sagen.

Innerlich grinse ich, als ich ihr auf leisen Sohlen die Treppe hinunterfolge. Sie versucht leise zu sein, aber jede einzelne Stufe knarrt trotzdem bei jedem Schritt. Ich hingegen gleite fast völlig geräuschlos hinter ihr her.  Das hat nichts mit meinem Vampirdasein zu tun, sondern eher mit meiner Erziehung. Heutzutage trampeln ja alle wie ungehobelte Schweinebauern. Früher, da wurde noch Wert auf eine gewisse Haltung gelegt. Das würde ihr definitiv auch nicht schaden. Wie eine zarte Elfe geht sie nämlich nicht.

Wie durch ein Wunder schaffen wir es ungesehen aus dem Haus. Das liegt vor allem daran, weil Valeries Mutter den Bibel TV Sender irrsinnig laut gestellt hat.

Als wir schließlich, nach der kurzen Fahrt in meinem Auto, am Strand angekommen sind, sitzen wir schweigend nebeneinander. 

„Wie verstehst du dich eigentlich mit deinem Bruder?", will sie von mir wissen.

Ich zucke mit den Achseln.

„Es ist kompliziert", gebe ich als Antwort. Ausführlicher kann ich auch fast nicht antworten. Ich kann ihr ja nicht sagen, dass es mich fürchterlich nervt, immer hinter ihm aufräumen zu müssen. Dass es mich nervt, wie vulgär er immer spricht. Dass es mich nervt, wie er Marian immer negativ beeinflusst und sie versucht, zu seinem kleinen, hirnlosen Anhängsel zu machen.

„Ist nicht alles immer kompliziert?", meint sie in die Stille und nachdenklich schaue ich zu ihr hinüber. Sie hat die Knie angezogen und ist in ihre Jacke gekuschelt.

Die Anspannung ist beinahe greifbar, daher versuche ich die Stimmung etwas zu lockern.

„Hast du neue Witze für mich?".

Jetzt grinst sie mich an. Dabei strahlen ihre Augen immer so, das mag ich an ihr. Wenige Mädchen haben so ein ehrliches und offenes Lachen wie sie und es ist wunderschön, wenn dabei auch ihre Augen strahlen.

„Chuck Norris kann schwarze Filzstifte nach Farbe sortieren", fängt sie an.

Ich reagiere nicht. Der Witz war auch eher mittelmäßig.

„Ich hoffe, da kommen noch bessere", kommentiere ich.

„Das war nur zum Aufwärmen".

Sie zieht ihre Stirn in Falten und scheint zu überlegen, welchen Witz sie jetzt bringen soll.

„Am siebten Tag machte Gott eine Pause", erwartungsvoll sieht sie mich an. „Weil Chuck Norris eine Pause wollte".

„Der würde deiner Mutter nicht gefallen", stelle ich trocken fest. Nach diesem Kommentar von mir fängt sie an zu lachen.

Sie hält sich atemlos ihren Bauch und schüttelt mit Tränen in den Augen den Kopf.

„Nein, sie würde mir mal wieder mit einem Exorzismus drohen".

Als sie sich wieder beruhigt hat, streicht sie sich ihre Haare aus der Stirn und dreht sich dann so hin, dass sie mir besser ins Gesicht sehen kann.

„Mit meiner Mom wird es immer schlimmer. Sie ist nur noch bei ihrem Bibelkreis und schaut diesen komischen Sender. Ich dringe fast nicht mehr zu ihr durch. Langsam mache ich mir wirklich Sorgen. Noch ein Jahr, dann habe ich meinen Abschluss und dann gehe ich zum Studieren so weit weg, wie nur möglich".

Einige Minuten sitzen wir schweigend nebeneinander. Unsere Blicke sind auf die Weite des Ozeans geheftet. Die Wellen schlagen in regelmäßigen Abständen an den Strand, dann zieht sich das Wasser wieder zurück, nur um wieder an den Strand gespült zu werden. Ein ewiger Kreislauf.

„Was hast du nach der Schule vor?", will sie von mir wissen.

„Ich habe ehrlich gesagt keinen wirklichen Plan. Zusammen mit meinem Bruder und meiner Schwester ziehe ich zurück nach Boston. Dort beende ich die Schule und werde irgendwas studieren".

„Du musst du wissen, in welche Richtung du dein Hauptfach wählen willst oder? Deine Eltern werden dich ja nicht einfach so vor sich hin studieren lassen. Das ist ja auch alles ziemlich teuer", will sie wissen. Wenn sie wüsste, dass es finanziell völlig egal ist und ich schon diverse Abschlüsse habe und nur noch zum Zeitvertreib zur Schule gehe und Studiere, dann würde sie mir diese Frage bestimmt nicht stellen.

„Meinen Eltern ist es egal. Hauptsache ich habe etwas zu tun", und bringe nicht ständig irgendwelche Nachbarn um – füge ich in Gedanken noch hinzu.

Darauf gibt sie mir keine Antwort.

Sie steht schließlich auf und versucht die Decke unter mir hervorzuziehen, da sie anscheinend zurück zum Auto möchte.

„Na los, steh endlich auf", weist sie mich grinsend zurecht. Schwungvoll erhebe ich mich und falte die Decke zusammen.

Sie ist vor mir am Auto und trommelt gegen die Tür. Ich schließe auf und werfe die Decke in den Kofferraum, dann fahren wir schweigend zurück. Inzwischen ist die Sonne untergegangen und ich muss die Scheinwerfer einschalten, da es leicht dämmert.

Vor ihrer Einfahrt schalte ich den Motor meines Rolls – Royce nicht aus, sondern lass ihn stotternd weiterlaufen.

Ich spüre, dass sie verlegen ist und nicht weiß, wie sie sich verabschieden soll.

„Da ist dein Haus", sage ich überflüssigerweise zu ihr.

„Ja, da wohne ich".

„Du solltest aussteigen. Deine Mutter steht bestimmt am Küchenfenster und beobachtet uns".

Sie lacht leise auf.

„Ja, ich habe schon die Vorhänge sich bewegen gesehen. Wahrscheinlich hat sie schon das Weihwasser bereit, damit sie es über dich schütten kann, solltest du mir zu nahekommen", witzelt sie. Zum Glück macht uns Vampiren Weihwasser nichts. Das ist nur ein alter Aberglaube.

„Ich sollte ihr einmal wirklich einen Grund liefern, dass sie ausflippt, nicht wahr?", fragt sie an mich gewandt.

Ich will sie fragen, was sie genau meint, aber dazu komme ich nicht. Sie überrumpelt mich, indem sie sich abschnallt, sich zu mir hinüber beugt und ihre Lippen auf die meinen presst. Schon wieder. Das zweite Mal in einer Woche. Langsam wird es zur Gewohnheit.

Aber dieses Mal fällt es mir schwerer, einfach nur dazusitzen und ihn nicht zu erwidern. Ich spüre ihr Blut durch ihre Venen rauschen. Ich höre wie ihr Herz viel schneller gegen ihren Brustkorb hämmert. Ihr Puls beschleunigt sich. Ihre Atmung setzt für mehrere Momente aus, solange ich wieder nur steif dasitze und ihre warmen Lippen auf den meinen spüre. Sie fühlen sich zart, warm und nachgiebig an.

Und dann tue ich es, ich erwidere den Kuss.

Don't kill me Darling (Dark Romance)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt