Kapitel 2. Der schwarze Strauch

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Ein wunderschöner Tag war es. Das spürte er in seinem Fell – und es lag nicht nur daran, dass es für Regenjunges nur schöne Tage gab in seinem Leben, nein, es war ein wirklich wahrhaftig wunderschöner Tag. Ob er so bleiben würde, war erst einmal dahin gestellt. Generell war ja alles erst einmal so hingestellt, alles im Leben und davor und danach, wer konnte sich schon sicher sein, was bleiben würde und wie lange? Selbst Dinge, die immer da waren, konnten einfach verschwinden. Was, wenn die Sonne einfach so verschwand? Sich zum Beispiel in Feuer verwandelte und dann auflöste? Sicher, nicht heute - aber was, wenn eines Tages? Und was, wenn doch heute? Dann wäre es sicher kein schöner Tag mehr.

Gedanken beim Aufwachen. Regenjunges sprang auf, schüttelte sich den Kopf frei und kletterte aus seinem Nest heraus, auf leisen Pfoten zwischen Taujunges und Mama durch und hinaus auf die Lichtung, frische Morgenluft atmen und endlich frei sein.

Und der Erste. Das war das Beste am Frühaufstehen. Man hatte das ganze Lager für sich, und das ganze Lager war frei. Und hell, erfüllt vom gleißenden Morgenlicht eines warmen Sommertages – Sommer, sein Wort für die Blattgrüne, seit Blattgrüne nicht mehr genügte, weil es nichts einfangen konnte von dem, was Sommer für ihn war; nicht das Brummen der Grillen und nicht das Summen der Bienen, nicht den Sonnenschein auf dem Pelz und nicht die heiße Luft bei Mittag. Nicht die langen Nächte, in denen man die Sterne sah, und erst recht nicht den Sommersonnenwind im Fell; nur das Grün der Blätter, nicht aber das Gelb der Trockenwiesen, nicht die bunten Kräuter oder ihren herben Duft, der die Luft füllte.

Was für ein wunderbarer Sommertag es doch nur war. Er spürte es in jeder Faser seines Körpers – ein wunderschöner Sommersonnentag.

Aber er wusste auch, dass dieser Tag nicht warten würde. Nicht bleiben würde und nicht zurückkehren würde, nicht um alles in der Welt, dass er, einmal vergangen, nur in seiner Erinnerung blieb. Dass er wertvoll war. Wertvoller als jeder Besitz, als jedes Beutestück, jedes Stück Territorium. Denn Zeit würde nicht zurückkehren.

Er durfte keine Sekunde davon verschwenden.

Regenjunges spitzte die Ohren. Sanft rauschten Blätter im warmen Wind, Grashalme tanzten leise, in diesem lieblichen Raschelklimpern, das sie dabei machten, gab es ein Wort dafür, konnte es ein Wort geben, das dieses Geräusch beschrieb, in sich vereinte, war so etwas überhaupt möglich?

Auf leisen Pfoten schritt er zur Lagerbarriere. Es war keine große Barriere, wie man es vielleicht erwartet hätte, nein, aber sie war dornig und zu hoch zum Überspringen, und sie sah überhaupt nicht so aus wie ihr Wort, nein, ›Lagerbarriere‹ passte nicht, überhaupt nicht, zu diesem Wall aus Dornen, der sich vor ihm auftat, dieser niedrige Dornenwall am Rand zu der fremden Welt, zu einer Welt, in der Sommersonne sanft den Boden berührte und Felder im Wind rauschelten, ja rauscheln, das war ein schönes Wort für das Geräusch. Wie sah diese Welt wohl aus? Welche Zauber waren an Tagen wie diesen wohl in ihr verborgen?

Eigentlich wusste er sehr genau, wie diese Welt jenseits des Dornenwalls aussah. Einmal hatte Tropfenjunges das Lager verlassen - vor einem Mond schon! Sie müssen winzig gewesen sein! -, dann hatte es einige Tage später ja das Feuer gegeben - Rauch, Qualm, Asche und Ruß in der Luft, wie Nebel, den man nicht atmen kann, nein, Feuer war grausam und grausam war ein gutes Wort dafür -, da hatte er es ebenfalls verlassen dürfen; und dann war da natürlich noch der Schwarze Strauch. Vom Schwarzen Strauch aus konnte man die Welt jenseits sehen, wenn man nur hoch genug kletterte.

Der kleine Kater fuhr die Krallen aus und kletterte die knorrige Borke entlang, setzte sich auf den dritten Ast und ließ den Blick über die ferne Welt schweifen. Der Wind fing sich in seinem Fell, ein lauer, schöner Wind, ein wenig böig, aber die Sonne schien ihm ins Gesicht, warm und herzlich, also schloss er für einen Moment die Augen und fühlte nichts als die Sonne, diese warme Sonne und-

Ein böiger Tag war das heute.

Er hätte besser aufpassen sollen.

Regenjunges hatte keine Zeit mehr aufzuschreien, als er fiel, einfach von dem Ast gefegt wurde wie ein Blatt im Blattfall, als er fiel und zwar auf allen vier Pfoten, aber auch auf einer Wand aus Dornen landete, zur Seite wegknickte und sich einrollte, davonkugelte, wegkreiselte und sich auf der anderen Seite wiederfand. Taumelnd, seine Augen drehten sich noch, obwohl er doch schon stehen geblieben war. Und sein Pelz war noch voller Dornen, obwohl er doch schon über den Dornenwall gerollt war.

Erstaunlicherweise hatte er sich nicht viel getan. Zwei Stacheln in den Pfoten, eine vorn links und eine hinten links, dann noch eine im Brustfell und ein paar an der Seite. Letztere leckte er hastig aus seinem Fell, die anderen zwei zog er mit Erinnerung an seine Stunden im Heilerbau vorsichtig heraus, leckte einmal darüber, schüttelte die Pfoten und sträubte das Fell.

Warmes Gras unter ihm. Warmes, samtiges Gras, wie Moos in seinem Nest, nur mit einem Hauch von frische, mit einem Hauch von Kühle darunter, tief versteckt in der Erde und dennoch spürbar.

Er war auf die andere Seite gefallen.

Vorsichtig sah sich das Junge um. Der Kleine wusste nicht recht, ob er nach Hilfe rufen sollte - schließlich schliefen noch alle und sie waren nie sehr froh, wenn er sie auf diese Art weckte, egal, wie wichtig es war, was er sagen wollte. Einmal waren sie alle dabei gewesen, den schönsten Spätfrühlingsmorgen zu verpassen.

Andererseits kannte er sich nicht gut aus in ihrem Territorium. Das letzte mal, dass er diese Seite des Walls gesehen hatte, war alles verkohlt und verbrannt gewesen. Und jetzt war es das ja nicht mehr, abgesehen davon erzählten die Krieger oft, dass man den Eingang kaum sah, wenn man auch vor ihm stand. Wann würde die Morgenpatrouille kommen? Nicht jetzt. Natürlich nicht. Würde sie überhaupt kommen?

Regenjunges sah sich um. So gruselig sah es tatsächlich nicht aus, wie Otternase immer erzählte. Hier waren gar keine Löwen und Tiger, die durch die Felder streiften und nach den Sternen suchten, hier waren auch keine finsteren Krieger, die unschuldige, kleine Jungen fangen wollten.

Ha. Das hatte er gleich gewusst! Wie konnte eine Welt, die so schön aussah, auch so grausam sein? Niemals.

Was sollte also geschehen. Wohin wollte er gehen? Bis Sonnenhoch musste er sich nicht wieder blicken lassen. Sie würden nicht viel früher nach ihm suchen, und nicht viel früher würde es ihm gelingen, eine Patrouille abzupassen. Was hatte Eisflug gestern verkündet? Eine Patrouille sollte auf jeden Fall zum großen Donnerweg. Wenn er also auch zum großen Donnerweg ging, müsste sie ihn dort natürlich finden.

Wo war der große Donnerweg? Auf der anderen Seite des Feldes.

Das sah nach einer schwierigen Aufgabe aus. In ein paar Stunden musste er also die andere Seite erreicht haben, und das vor der Patrouille.

Natürlich, er konnte auch einfach warten und sich diesen wunderschönen Sommertag entgehen lassen.

Aber wie hatte er noch gleich gesagt?

Sommertage kehrten nicht zurück.

WarriorCats - Von der Wahrheit träumt man nicht (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt