(Untitled)

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Im Gegensatz zur pompös-eingerichteten Eingangshalle, war Oliver Jones Ausstellungsraum schlicht und modern aufgebaut. An den weißen Wänden hingen verschiedene Arten von Fotografien: Polaroids, Produkte einer Einwegkamera, digitale Fotos und Diashows welche mithilfe von Projektoren an leere Wände projiziert wurden. Manche Bilder waren lebensgroß, andere so klein wie Briefmarken. Hunderte von Werken wurden ausgestellt und begeistert diskutierten sie über die langersehnte Kunst des Fotografen. Jedoch gab es auch ein paar Ausnahmen, welche still die vermittelten Emotionen aufnahmen und zu entziffern versuchten.

Niemand bemerkte aber, wie ein Mann kaum seinen Blick von seinen Schuhen heben konnte. Niemand schien aufzufallen, dass dieser am ganzen Körper angespannt war, sich Schweiß auf seiner Haut sammelte und am Rande einer Panikattacke schien. Nervös blickten seine Augen umher und suchten vergeblich einen Ankerpunkt. Sekunden fühlten sich an wie Stunden und nach einiger Zeit verschwanden immer mehr Menschen von seinem Blickfeld. Er wischte sich seine nassen Hände an seinem Anzug ab und mit zittrigem Atem trat er zögernd in den Raum hinein. Nur noch vereinzelt standen eingeladene Gäste mit ihren Champagnerflöten und schienen ihn nicht zu registrieren. Als auch diese sich in den nächsten Raum begaben, wirkten die Wände doch nicht so erdrückend und der Boden fühlte sich fester unter seinen Schuhen an.

Jon wischte sich mit einem Taschentuch über seine glänzende Stirn und versuchte sich zu sammeln. Die schweren Türen fielen hinter ihm zu und er war schließlich alleine. Es schien viel mehr Zeit vergangen zu sein, als er dachte.

Die Fotos waren chronologisch angebracht. Ein mulmiges Gefühl machte sich in seinem Bauch breit, als er sich auf dem ersten Ausstellungsstück erkannte. Es war schlichtweg ein Selfie von Oliver und Jon, welches auf einem ihren ersten Dates geschossen wurde. Später würde sich herausstellen, dass Oliver nur auf insgesamt zwei Fotografien zu sehen sein würde und sich der Rest um Porträts seiner liebsten Mitmenschen handelte.

Mit jedem Schritt tauchte Jon in eine Welt ein, welche er schon lange hinter sich gelassen hatte. Er sah sein jüngeres Ich mit Emotionen, welche er sich nicht mehr erlauben konnte. Ein sorgenfreies lachendes Gesicht schaute Oliver hinter der Kamera an und versuchte die Hand zwischen sich und der Linse zu bringen. Es entstand vor ihrem ersten Mal zusammen. Direkt danach konnte man Jons Seitenprofil in der Dämmerung ausmachen und wie dieser sich nach dem Sex eine Zigarette anzündete. Ein leichtes Lächeln bildete sich auf Jons Gesicht, die vergessenen Gefühle kamen in angenehmen Wellen wieder hoch. Entspannter schaute er sich die weiteren Bilder an und konnte unter ihnen auch Zeichnungen ausmachen. Er erkannte Olivers Eltern und viele seiner Freunde wieder. Zwar konnte man den Fotografen nie sehen, aber die Emotionen schienen sich in seinen Subjekten widerzuspiegeln.

Bei einem lebensgroßen Bild stockte er. Sofort spannte sich sein gesamter Körper wieder an und er war den Tränen nahe. Er saß in diesem Foto auf seinem Bett in seinem Kindheitszimmer. Oliver hat den Moment eingefangen, als er mit einem stolzen Grinsen die Ergebnisse eines Mathewettbewerbs von seinem Bruder betrachtete. Jon erinnerte sich an den Tag zurück – es war nur wenige Tage bevor alles zu Grunde gegangen ist. Mit einem schmerzhaften Krampf in seiner Brust wandte er sich von dem riesigen Bild ab. In den nächsten Bildreihen konnte er erkennen, wie sehr sich die Stimmung innerhalb der Porträts sich änderte. Auch wenn die Subjekte lächelnd in die Kamera blickten, waren alle einer traurigen Atmosphäre unterlegen.

„Er hat wirklich mit mir gelitten", flüsterte Jon in den leeren Saal. Oder hat er nur wegen ihm gelitten?

Es wurde ihm zu viel. Er konnte mittlerweile auch wieder die Gäste in dem anderen Saal hören und wie diese vorfreudig auf etwas zu warten schienen. Nur noch mit halber Aufmerksamkeit lief er die letzten verbliebenden Bilder ab. Das letzte Porträt welches er noch aufnehmen konnte, war erneut eines von ihm. Jedoch sah man sein Gesicht nicht und er schritt auf einen Bus zu. Es war in schwarz-weiß gehalten und er trug seine Militäruniform. Aufgewühlt fuhr sich Jon durch seine Haare – er wusste nicht, dass Oliver selbst diesen schweren Schritt mitdokumentiert hatte. Erinnerungen von den gemurmelten Versprechen und liebenden Wörter kamen hoch.

JonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt