Chapter 10 / Jasper

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In der Luft lag der Duft von Freiheit, dummer Naivität und abgestandenem Bier. Dies konnte nur bedeuten, dass die Erstsemesterwoche im vollen Gange war.

Ich konnte mich noch genau daran erinnern, wie ich vor zwei Jahren den Campus zum ersten Mal betreten hatte und dachte, dass sich nun alles verändern würde. Wie ich in diesem leeren Zimmer mit den kahlen Wänden stand und dachte mein Leben würde ab nun beginnen. Keiner würde Fragen stellen und ich könnte sein wer auch immer ich sein wollte. Ich hatte die Chance alles hinter mir zu lassen.

Doch auch ich musste feststellen, dass sich Probleme nicht in Luft auflösen nur weil man an einem anderen Ort war.

Nichtsdestotrotz hatte ich mich voll in das Studentenleben geworfen. Zum Teil, weil ich mich noch nie so frei gefühlt hatte. Es war das erste Mal, dass ich mich um niemanden als mich selbst kümmern musste, mir keine Sorgen machen musste wie wir die Miete bezahlten oder ob wir die letzten Tage im Monat noch etwas zu essen kaufen konnten. Zum anderen, ließ ich mich einfach fallen um zu vergessen. Ich wollte mich vergessen, wer ich gewesen war und mir etwas neues aufbauen.

Doch manchmal, wenn die Nächte zu lang und die Gedanken wieder zu laut wurden, da fühlte ich mich wie damals mit Sechszehn. Allein in einer kalten Nacht am Straßenrand. Die Jacke viel zu dünn, um mich wärmen zu können. Die Haare durchnässt und die Hände eiskalt vom Herbstregen. Sollte ich nach Hause gehen, wo mich keine Zukunft erwartete oder sollte ich einfach hier bleiben und auf das unvermeidliche warten...

"Jasper?! Jaspeeeeeer?"

Ich erschrak.

"Da war aber jemand ganz weit weg. Alles okay Jas?" Fragte Cassy.

„Ähm. Sorry, was hast du gesagt?"

„Ich hab gesagt, dass du dich beeilen sollst. Ich will mich später nicht alleine betrinken müssen und du schuldest mir noch eine Runde Bier Pong." Antwortete sie mit ernster Miene, doch ich hörte ihren ironischen Unterton.

"Lass mich schnell mein Handy holen und dann komm ich nach." Versprach ich.

"Super. Ich sag Tom bescheid, dass er das gute Bier raus holen soll. Wir müssen noch auf die bestandenen Klausuren anstoßen." Sagte Cassy lächelnd.

"Auf jeden Fall. Kann's kaum erwarten." Antwortete ich und freute mich wirklich auf die Party.

Ich umarmte sie kurz und ging dann in die andere Richtung zur Bibliothek. Dort hatte ich heute Morgen mein Handy liegen lassen als ich ein Buch zurück gegeben hatte, welches aus Versehen den ganzen Sommer in meinem Rucksack verweilte. Natürlich musste ich eine ordentliche Gebühr zahlen und hatte mir metaphorisch in den Arsch gebissen.

Als ich in das alte Gebäude eintrat war es relativ dunkel. Nur noch einzelne Lampen strahlten an den Tischen. Das Semester hatte noch nicht einmal richtig begonnen und die ersten Streber saßen schon wieder über ihren Büchern.

Heute Morgen hatte ich mich noch kurz mit einem der studentischen Mitarbeiter unterhalten und mich in seinen Ozeanaugen Augen verloren. Er hatte gerade ein paar Bücher wegsortiert als ich mein überfälliges Exemplar zurück brachte.
Er war mir sofort ins Auge gefallen. Karamellfarbene Haut in Kontrast mit hellen Augen. So stellte ich mir einen Adonis im alten Griechenland vor. Und ich kam nicht drum herum mich zu fragen, ob seine Bauchmuskeln ähnlich göttlich aussahen.

Bevor ich noch mitten in der Bib einen Steifen bekam, sprach ich ihn an und flirtete meinen Weg zu seiner Handynummer. Dabei musste ich es wohl liegen gelassen haben.

Ich ging weiter in den Raum zu der Stelle wo ich mir am Morgen ausgemalt hatte ihn zu packen und gegen eines der Regale zu vögeln. Und tatsächlich es lag noch da. Unberührt und in Takt. Zwar nur mit 5% Akku, aber das war egal. Ich musste wohl auch mal Glück haben oder wie meine Mom immer sagte, ein blindes Huhn findet auch mal ein Korn. Bei dem Gedanken an sie musste ich lächeln.

Das Handy steckte ich in meine Hosentasche und sah mich dann nochmal im Raum um bevor ich gehen wollte. Eine Studentin mit blondem Zopf sah's weiter vorn, ein anderer etwas dünnerer Mann mit schwarzen Locken saß nur wenige Tische neben ihr.
Und ganz hinten saß ein Student mit Kopfhörern auf den Ohren. Ich musste zweimal hinsehen, um zu erkennen wer da über den Bücher hockte. Die nerdige Brille mit dem schwarzen Rahmen ließen seine scharfen Züge wie die von Clark Kent aussehen. Doch an Stelle von Superman war er so aufregend wie der Wortschatz von Groot aus The Guardians of the Galaxy.

Bei seinem Anblick schossen mir sofort die Ereignisse von vorgestern in den Kopf. So wütend hatte ich ihn noch nie erlebt. Klar, hatte ich Theo schon oft auf die Palme gebracht, aber gestern war er wirklich kurz davor gewesen mich einen Kopf kürzer zu machen.

„Was habe ich dir je getan, dass du mich so hasst?" Hatte er mich lauthals angeschrien. Ich war gerade auf dem Weg zu Tom gewesen, da packte er mich aus dem Nichts kommend, fest am Kragen meiner Jacke und drückte mich mit voller Wucht gegen die Wand. Mein Kopf war heftig gegen die Steine geknallt, aber das zeigte ich ihm nicht. Um uns hatten viele das Geschehen beobachtet, aber taten schnell uninteressiert als er wieder seine Stimme erhob.

"Lass mich einfach in Ruhe. Ich schwöre, ich zeig dich an, du Mistkerl!" Seine Stimme kalt wie Eis und seine Augen voller Hass. Sein Griff stahl mir die Luft aus den Lungen, doch ich wollte keine Schwäche zeigen.

"Hast du mich verstanden? Noch einmal und du wirst dir wünschen niemals geboren worden zu sein!" Mit dieser Drohung löste er sich und ließ mich nach Luft ringend stehen. War ich wirklich zu weit gegangen?

*Peng!*

Ich fuhr zusammen. Meine Gedanken wie leer gefegt. Doch schnell fasste ich mich und dachte darüber nach wie viel Ärger die Kommilitonen bekommen würden, da Böller auf dem Campus strickt verboten waren. Idioten.

*Peng!*

Kein Zischen, kein Pfeifen. Nichts. Nur ein zweiter ohrenbetäubender Schuss.

Eine Gänsehaut überkam mich als von draußen plötzlich laute Schreie ertönten. Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter. Ein markerschütternder Schrei folgte dem nächsten, und noch einer und noch einer.

Innerlich erstarrte ich und meine Sicht wurde schwammig. Mein Körper reagierte nicht mehr und meine Gedanken standen mit einem Mal still.

Hopeless Hearts (menxmen)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt