Kapitel 9

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Niamh fröstelte. Sie zitterte am ganzen Körper, wurde mitten in der Nacht von heißkalten Schauern erschüttert. Umso heißer erschien ihr die Hand, die sich plötzlich auf ihren Arm legte. Als sie die Augen aufschlug erkannte sie Quaritch, der mit besorgtem Gesichtsausdruck neben ihr in die Hocke gegangen war.

„Soll ich mich zu dir legen?"

Sie verstand erst nicht, worauf er hinaus wollte und fragte sich, wie er es überhaupt wagen konnte, sie nach der Aktion vor wenigen Stunden anzusprechen und eine Reaktion von ihr zu erwarten. Dann erkannte sie seine guten Absichten. Aber sie wollte seine Hilfe nicht. Sie brauchte ihn nicht, sie kam gut allein klar. Schließlich schlich sie schon seit Jahren tagelang, manchmal auch für Wochen vom Clan weg, um im Wald allein mit ihrem Ikran zu sein. Dem Ikran, den er getötet hatte. Neue Wut schäumte in ihr auf. Sie hatten ihn geliebt, ihren Ikran. Er war für ihre Freiheit gestorben, die sie nun doch nicht bekommen hatte. Er war umsonst gestorben. Er hätte nicht sterben sollen. Er hätte nicht sterben müssen, wenn Quaritch nicht gewesen wäre. Aber wenn Quaritch nicht gewesen wäre, würde sie jetzt wohl immer noch in der Basis der Himmelsmenschen festsitzen und gefoltert werden. Das musste sie ihm anrechnen. Aber eigentlich er war es gewesen, der sie erst gefangen genommen hatte. Er war an allem Schuld. Er war der Feind, der nun auch noch die Ehre ihres Volks beschmutzt hatte.

„Verschwinde!", zischte sie.

Aber er blieb, atmete nur schwer aus, sah sie aus traurigen Augen an. „Sei vernünftig. Dir geht es schlechter, das Feuer allein reicht nicht aus, um dich warm zu halten. Lass mich dir helfen." Seine Stimme war sanft. Und da war tiefe Reue in seinen Augen, die er aber nicht aussprach. Es tat ihm ehrlich leid, das konnte sie ihm ansehen, er musste es gar nicht aussprechen. Aber das spielte keine Rolle. Er hatte etwas getan, das unverzeihlich war.

Wortlos drehte sie sich auf die andere Seite, das Gesicht vom Feuer abgewandt, und schloss die Augen. Sie hörte wie er hinter ihr seufzte. Dann stieg er über sie hinweg und legte sich an ihre Seite, legte einen Arm um ihre Seite. Niamh erschauderte, die wohlige Wärme seines Körper war wie ein Schock für ihren fröstelnden Körper. Frustriert sog sie die Luft scharf ein. Sie wollte seine Hilfe, seine Wärme nicht, aber ihr Körper brauchte es. Das machte er ihr mehr als deutlich, als sie sich unwillkürlich an ihn schmiegte, die Wärme zitternd in sich aufnahm.

Plötzlich griff er nach ihrem Arm, legte ihn wie in der letzten Nacht auf seine Brust und seinen Arm darüber, um ihr möglichst viel Wärme zu spenden. Widerwillig ließ sie ihn gewähren und seufzte wohlig bei der sanften Berührung. So verharrten sie, während sich ihr Körper langsam auf normale Temperatur erwärmte und lagen eine Weile schweigend da, lauschten den Geräuschen des Waldes, konnten aber nicht einschlafen. Niamh war viel zu aufgekratzt und noch immer wütend auf Quaritch und an dessen Atmung konnte sie erkennen, dass auch er noch wach lag.

„Es tut mir leid." Er flüsterte die Worte kaum hörbar in die Nacht. „Ich wollte dich nicht beleidigen. Ich wollte dir danken und dir nah sein."

Es war keine Rechtfertigung, es war eine aufrichtige Entschuldigung und Erklärung. Und sie konnte ihn verstehen. Niamh war nicht die einzige, die die Momente der Nähe zwischen ihnen genossen hatte und misste. Aus irgendeinem Grund war da eine Verbindung, durch die sie einander besser verstanden, als sie es je mit anderen Menschen oder Na'vi getan hatte. Auch wenn ihr das ganz und gar nicht gefiel. Sie hätte nie gedacht, dass sie sich ihrem Feind eines Tages verbunden fühlen würde, geschweige denn Mitgefühl oder Mitleid mit ihm verspüren würde. Aber das war nun der Fall und sie wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte. Ihr Kopf befahl ihr, ihn bei der nächsten Gelegenheit zu töten. Ihr Herz wollte für immer an seiner Seite bleiben, sich nicht mehr von ihm lösen.

Stopp! Aufhören! Sie durfte diese Gedanken nicht zulassen. Das war nicht richtig.

„Es tut mir leid, wegen deinem Ikran ... Ich hätte ihn nicht töten sollen." Er holte Luft, als wolle er noch etwas sagen, schwieg dann aber.

„Ja, du hättest ihn nicht töten sollen", sagte sie tonlos, während vor ihrem geistigen Auge Bilder von all den Flügen durch den Wald und die Berge vorbeihuschten. Sie konnte den Wind in ihrem Gesicht fast spüren, genau wie die Freiheit, die seine Schwingen ihr verliehen hatten.

„Ich vermisse ihn." Tränen traten in ihre Augen.

„Da ist jetzt ein Loch in meinem Herzen. Er war ein Teil von mir. Wir waren durch Tsaheylu verbunden." Sie schluchzte, machte sich Vorwürfe, weil sie erst zwei Tage nach seinem Tod um ihn trauerte.

„Es ist als hättest du mir ein Bein ausgerissen. Du hast nicht nur ein wunderschönes Geschöpf getötet, du hast mir meine Freiheit geraubt. Und ich weiß nicht, ob ich die je wieder haben werde, ob ich je wieder fliegen werde." Die Tränen rannen über ihre Wangen, tropften auf Quaritchs Brust herab. Der stumme Sturm war ausgebrochen.

„Du hast mich verkrüppelt."

Er legte seine Hand auf ihren Kopf, drückte sie sanft an sich. „Es tut mir leid, wirklich." Seine Stimme bebte. „Ich will alles tun um ... um es weniger schlimm zu machen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie weh das tun muss." Er holte tief Luft. „Ich erwarte nicht, dass du meine Entschuldigung annimmst, aber ich bitte dich, meine Hilfe anzunehmen. Ich will nicht, dass du stirbst oder noch mehr leidest. Bitte lass mich dir helfen. Bitte."

Und da brach der Damm. Hemmungslos schluchzend und heulend, krallte sie sich in seine Haut, schlug auf seine Brust ein, schrie und schrie und schrie. Schrie all den Schmerz in die Welt hinaus, der auf ihrer Seele lastete: Die Zerstörung ihrer Heimat durch die Himmelsmenschen, der Tod ihrer Eltern, dass niemand je für sie da war, die Einsamkeit, das Unverständnis der Leute für ihre Neugier und die Gier nach Rache, der Verlust ihrer Ziehfamilie, dass man sie einfach zurückgelassen hatte, dass sie mit niemandem reden konnte, die Gefangennahme, die Folter, das Auspeitschen, der Tod ihres Ikrans, der Sturz, Quaritch.

Und doch war er es, dem sie sich gerade am nächsten fühlte. Noch nie war jemand so für sie dagewesen, hatte sich so sehr um sie gesorgt. Immer hatten alle von ihr erwartet, dass sie schon irgendwie ohne Hilfe klar kam. Nie hatte sie sich bei jemandem so geborgen und sicher gefühlt, wie jetzt in diesem Moment an seiner Seite. Hier war es sicher sich all den Schmerz von der Seele zu schreien, sich von der Trauer zu erleichtern. Vergessen war das Leid, das er ihrem Volk, ihrer Heimat und ihr selbst zugefügt hatte. Gerade zählte nur die Geborgenheit, die Sicherheit, die Wärme. Nicht das Vergangene.

Irgendwann wurde das Weinen, Schluchzen und Wimmern leiser. Die Wellen wurden kleiner, brandeten in immer größeren Abständen an die Oberfläche, bis sie langsam abebbten und schließlich versiegten. Alle Tränen waren vergossen, alles Leid hinausgeschrien. Eine leere, müde Hülle blieb zurück, allein von den Armen Quaritchs an seiner Seite und im Hier und Jetzt gehalten. Er gab ihr Halt. Und Hoffnung.

Und mit diesem Gedanken glitt sie erschöpft in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Verlorene Seelen PandorasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt