Nachdem Terna zurück zum Dorf gegangen war, wandte sich Naoki an Reolan. „Ich möchte mir denjenigen ansehen, der dort hinten am Baum sitzt", sagte sie und deutete in die Schwärze. Sie spürte, dass dort ein Wald war und den Mann nahm sie auch wahr, weil die dunkle Energie, sie von ihm ausging, ihre Sinne reizte.
„Du kannst ihn sehen?", fragte Reolan verwundert, da da Licht nicht bis dort reichte. Zum Glück.
„Nein, aber spüren", erwiderte Naoki ruhig. Er war derjenige, der am meisten befallen war.
Reolan atmete hörbar aus. „Ich möchte nicht, dass du dorthin gehst", sagte er angespannt. „Das ist ... zu gefährlich."
„Warum?", fragte sie, da sie nicht verstand, was er meinte. Der Mann lehnte doch nur an einem Baum. Er konnte doch auch herkommen, oder?
Naoki konnte von ihrer Position aus nicht sehen, dass er angebunden war. Da es sich um ein Seil aus Hanf handelte, konnte sie dieses auch nicht von der restlichen Natur unterscheiden.
Unruhig trat Reolan von einem Bein auf das andere und wechselte seine Position ein Stück. Damit sorgte er dafür, dass der Boden leicht bebte. „Er ist gefährlich", wiederholte er.
Diese Formulierung ließ Naoki die Stirn runzeln. „Er?", fragte sie und wunderte sich, dass es jetzt nicht mehr um die Krankheit, sondern den Patienten ging.
„Ja. Sobald die Krankheit einen gewissen Punkt erreicht hat, werden die Patienten gewalttätig und greifen andere an", erklärte Reolan, der schon ahnte, dass er Naoki nicht davon abhalten konnte, den Mann zu untersuchen. Allerdings wollte er so nah wie möglich bei ihr bleiben.
„Aber er sitzt doch da so ruhig", bemerkte Naoki verständnislos.
„Er ist gefesselt", erwiderte Reolan nüchtern.
„Oh", sagte Naoki und musste leicht lächeln. „Dann ist doch alles in Ordnung. Dann kann er mir nichts tun", bemerkte sie und machte einen Schritt auf den Kranken zu.
Reolan brummte, bevor er ihr langsam folgte. Er akzeptierte, dass er in diesem Punkt verloren hatte, doch er würde nicht zulassen, dass sie ihn berührte.
Naoki lief weiter und ließ die Lichtpunkte vorschweben. Als sie den Mann an dem Baum erhellten, blieb sie stehen, erstarrte und stolperte dann mit einem leisen Aufschrei zurück.
Da lehnte eine verweste Leiche an dem Baum und doch spürte Naoki Lebenszeichen.
Die Haut des Mannes rutschte von seinem Gesicht und hing in Fetzen. Ein Auge war herausgerutscht und hing noch an einer Vene. Dazu kam ein abartiger Gestank, der mit jedem Moment schlimmer wurde.
Naoki wurde schlecht und sie musste sich die größte Mühe geben, nicht zu brechen.
Er lebte noch, was hieß, sie könnte ihn heilen. Das redete sie sich ein, um sich Mut zu machen.
Dann sah das Wesen zu ihr, öffnete den Mund, der mit verfaulten Zähnen bestückt war und knurrte.
Naoki erzitterte und rutschte noch weiter zurück. Das war ein Wesen aus einen ihrer Albträume. Niemals hätte sie erwartet, dass es sie wirklich gab.
Die Angst hielt sie in ihrem Klammergriff und erst, als Reolan seinen Flügel über sie breitete, dass sie den Mann nicht mehr sehen musste, konnte sie sich langsam wieder beruhigen. „Was ist das?", fragte sie mit belegter Stimme. Das war doch kein Mensch mehr!
„So werden die Menschen, wenn sie zu lange infiziert sind", erklärte Reolan. Naoki schluckte.
„Ich ... Ich glaube, ich kann das nicht", sagte sie zitternd. Obwohl sie ihn unbedingt hatte sehen wollen, kam sie jetzt nicht mit dem Anblick klar.
„Doch, das kannst du. Mach es so wie bei Tarane", sagte Reolan sanft.
„Das geht nicht. Ich brauche zu viel Kraft, wenn ich auf Distanz heile", erwiderte Naoki angespannt. „Er ist zu krank. Dafür reicht meine Kraft nicht."
„Und wenn du die Heilung nur beginnst?", fragte Reolan. Er wusste nicht, ob das so funktionierte, doch etwas anderes fiel ihm nicht ein.
Naoki schluckte erneut und befeuchtete sich ihre Lippen. „Gut. Ich werde es versuchen. Aber ich muss trotzdem etwas näher heran", sagte sie, denn noch war sie zu weit.
Zudem brauchte sie noch einen Moment, um ihren Körper wieder zu beruhigen. Noch immer zitterte sie und schaffte es kaum, wieder aufzustehen.
„Ich schirme dich mit meinen Flügeln ab", bot Reolan an, doch Naoki schüttelte den Kopf.
„Nein. Ich muss ihn sehen", sagte sie und versuchte, den Mut zu fassen, ihm entgegenzutreten.
Reolan brummte nicht begeistert, nahm dann jedoch den Flügel runter.
Naoki starrte zu Boden, atmete tief durch und hob dann den Blick, um sich dem zu stellen, was da vor ihr saß. Vermutlich wäre es ihr nicht so schwergefallen, wenn er sich nicht bewegen würde. Doch das tat er. Der Mann, der eigentlich nicht mehr leben sollte, versuchte, die Seile zu zerreißen, die ihn hielten.
Mit zittrigen Beinen machte Naoki einen Schritt auf ihn zu. Vorsichtig noch einen und noch einen, bis sie nah genug dran war, um ihre Magie problemlos wirken zu können.
Langsam schloss sie ihre Augen und begann damit, die Verbindung herzustellen. Der Mann fühlte sich kalt und falsch an. Es war ein Gefühl, das ihr Angst machte, doch sie hörte nicht auf. Stattdessen begann sie, den Zauber zu sprechen und die Kraft der Umgebung zu nutzen.
Während sie ihre Magie in ihn fließen ließ, stellte sie fest, dass an seinem Körper gar nichts mehr normal war. Nicht einmal eine einzige Zelle war so, wie sie sein sollte. Das machte ihr Sorgen, denn sie wusste nicht, ob sie wirklich in der Lage war, ihn zu retten. Dennoch versuchte sie es.
Naoki begann bei seinem Herzen und versuchte, dieses wieder herzustellen, bevor sie zur Lunge und dann zum Magen weiterging. Es war kräftezehrend und sie wusste nicht, ob ihr Versuch von Erfolg gekrönt war und dennoch versuchte sie es weiter.
Dabei bemerkte sie, dass über ihre Verbindung zu ihm, etwas Kaltes zu ihr vordrang. Es legte sich auf ihre Hand, was sie jedoch erst einmal ignorierte. Der Patient ging vor. Danach konnte sie sich um sich kümmern.
Die Zeit verging und Naoki hatte das Gefühl, überhaupt nichts erreicht zu haben. Erschöpft sank sie zu Boden und unterband die Verbindung. „Mehr kann ich heute nicht tun", sagte sie.
Reolan betrachtete den Mann. Er hatte sich körperlich nicht verändert, doch er war ruhiger geworden. Sein Blick menschlicher. War das ein gutes Zeichen oder nicht?
„Das hast du gut gemacht. Möchtest du zurück, doch ausruhen und es morgen noch einmal versuchen?", fragte er, da er durchaus verstand, dass eine Heilung längere Zeit brauchte. Wenn sie wirklich in der Lage war, die Menschen zu heilen, würden sie sich etwas ausdenken müssen.
„Ja, ich ...", bevor sie weitersprechen konnte, unterbrach das Stöhnen und Husten des Mannes ihre Worte. Er begann plötzlich Blut zu spucken.
Naoki wollte aufspringen und zu ihm, um zu sehen, was los war, doch Reolan hielt sie erneut mit ihren Flügel zurück. Zu schwach, um sich dagegen zu wehren, konnte sie nur über den Flügelknochen sehen und beobachten, wie der Mann sich krümmte, bevor er zusammensackte und still wurde.
Naokis Herz klopfte heftig, als ihr bewusst wurde, was geschehen war. „Er ist tot", sagte sie mit belegter Stimme und rutschte an Reolans Flügel hinab. Sie hatte es nicht geschafft.
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Die Drachen von Askan
FantasyNaoki muss aus ihrer alten Heimat fliehen und durch ein Portal landet sie auf einem Kontinent, den bisher noch nie jemand ihrer Gegend betreten hat. Askan. Dort steht sie dem Drachen Seolan gegenüber, der sie töten will, es sich dann doch anders übe...