V I E R

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Heute ist mal wieder einer von diesen Tagen.

Manchmal wacht man auf, setzt sich an die Kante seines Bettes, starrt verschlafen an die Wand... und weiß einfach, dass es so ein Tag wird. Ein Tag, an dem viel zu erledigen ist, der Stapel an Aufgaben so hoch, dass man fast Gefahr läuft, unter ihm begraben zu werden... und dann einfach alles schief läuft. ALLES.

Es fing schon damit an, dass die Postfiliale meines Vertrauens geschlossen hatte – wegen eines Rohrbruchs. So musste ich also in die Nachbarortschaft fahren, was mich eine halbe Stunde kostete. Vor Ort gab es bei den Schaltern auch noch Warteschlangen, die so lang waren, dass ich ernsthaft mit dem Gedanken spielte, einfach wieder umzukehren. Irgendwann kam ich dann doch dran und konnte meine Pakete aufgeben (für zwei meiner Follower, die bei einem Gewinnspiel gewonnen hatten).

Anschließend fuhr ich zum Supermarkt, um meinen wöchentlichen Einkauf zu tätigen. Dumm nur, dass Obst und Gemüse die Blätter hängen ließen und nicht mehr frisch waren. Ich sah es nicht ein, den gleichen Preis für halb verrottete Zucchini zu zahlen, also fuhr ich zu einem anderen, wesentlich teureren Supermarkt, wo alles trotzdem nur ein bisschen frischer war.

Auf dem Weg zurück in meine Wohnung stolperte ich auf der letzten Treppenstufe vor meiner Tür und musste dabei zusehen, wie alle meine Einkäufe einen Ausflug ins untere Stockwerk machten. Eine Avocado schaffte es sogar bis vor die Tür meiner Nachbarin.

So stehe ich jetzt also in meiner Küche, die Einkäufe wieder beisammen, mit dem unbestimmten Bauchgefühl, dass dieser Tag noch einige weitere böse Überraschungen für mich bereit hält. »Das ist doch Blödsinn«, murmle ich vor mich hin. Was für einen Sinn hat es denn, so zu denken? Wenn ich glaube, dass heute noch irgendein Mist auf mich zukommt, wird das auch passieren. Stattdessen wäre es doch viel schlauer, dem Tag noch eine Chance zu geben. Er war immerhin scheiße genug bis hier hin, da muss ich ihn mir nicht auch noch selbst zusätzlich versauen.

Nachdem ich meine Einkäufe verstaut habe, mache ich mich daran, meine Wohnung zu putzen (inklusive aller Fenster). Anschließend schaffe ich es noch irgendwie, den letzten Rest meiner Kräfte zusammenzukratzen und eine Ladung Wäsche in die Maschine zu werfen (wie ich es dann später schaffen soll, ebendiese Wäsche aufzuhängen, ist die nächste Frage).

Die Zeit, bis es soweit ist, überbrücke ich damit, mich Social Media zu widmen. Ich überfliege die Liste an Beiträgen, in denen ich markiert wurde und beschließe, mit einigen zu interagieren. Ein paar nette Nachrichten unter meinen Post bringen mich zum Lächeln und ich antworte auf diese. Die beleidigenden lösche ich.

Ich seufze, als ich einen leisen Stich in meiner Herzgegend verspüre. Obwohl ich das alles jetzt eigentlich lange genug mache, um wissen zu können, wie man mit Hass im Internet umgeht, ist es nicht unbedingt leichter geworden, sich manches nicht zu sehr zu Herzen gehen zu lassen.

Der Austausch mit anderen Influencern oder Bloggern, mit denen ich mich gut verstehe, hat mir ungemein geholfen. Es gibt welche, die bereits seit gut zehn Jahren dabei sind und mir gesagt haben, dass sie noch immer Schwierigkeiten haben, damit umzugehen, dass manche Menschen ihren Hass im Netz ungefiltert an ihnen auslassen. Im Grunde genommen habe ich realisiert, dass das oft Menschen sind, die mit sich selbst und ihrem Leben unzufrieden oder gar unglücklich sind. Das rechtfertigt natürlich nicht, sich so im Internet zu verhalten, aber es hat mir geholfen, solche fiesen Kommentare richtig einzuordnen.

Auch, wenn ich Mitleid für diese Menschen fühle, ist es nicht meine Aufgabe, solch ein Verhalten zu tolerieren. Das ist der Grund dafür, dass ich Hass-Kommentare ohne zu zögern sofort lösche und gar nicht erst auf sie eingehe. Das wäre nämlich das Schlimmste, was man tun kann.

Ich war allerdings nicht auf die Verletzung und Wut vorbereitet, die mich überkam, als Tim mich so heruntergemacht hat. Das hat sich nämlich nicht ›nur‹ im Internet abgespielt, sondern im echten Leben. Er ist ein Mensch aus Fleisch und Blut, der da vor mir saß und mir all diese Dinge direkt ins Gesicht gesagt hat.

Auch wenn ich weiß, dass er einfach ein Volltrottel ist, geht es mir doch nahe, sowas zu hören. Ich gebe mir unglaublich viel Mühe bei meinem Content und ziele nicht nur darauf ab, Menschen zu zeigen, wie man sich schön schminkt. Es geht auf meinem Account um so viel mehr. Zum Beispiel darum, sich zu lieben und zu respektieren. Es geht um Selbstverwirklichung. Ich möchte die Menschen, die meine Beiträge ansehen dazu motivieren, an sich selbst zu glauben und aufmerksam (auch ihrem eigenen Gefühlsleben gegenüber) durch die Welt zu gehen.

Ich erzähle manchmal Geschichten aus meinem Leben, aus denen andere (vor allem auch jüngere Menschen im Teenageralter) lernen können. Ich zeige mich regelmäßig nicht nur geschminkt, sondern auch ohne Make-up, damit alle sehen können, dass meine Haut nicht immer perfekt ebenmäßig und glatt ist – und dass das völlig normal und gut so ist.

Mein Account soll ein sicherer Ort für andere sein und ich habe den Eindruck, dem ist so. Ich gebe mir jeden einzelnen Tag Mühe, dass das auch so bleibt.

...

Später, nachdem ich meine Wäsche aufgehängt habe, beschließe ich, mich für meine Anstrengungen heute mit einem Gebäck plus Heißgetränk bei meinem Lieblingscafé zu belohnen.

Als ich meinen weißen Plüschmantel mit breitem Kragen anziehe, erhasche ich einen kurzen Blick auf den Spiegel in der Garderobe. Ich trage noch das Make-up, welches ich für das Filmen eines Tutorials vorhin aufgelegt habe. Manche würden vielleicht sagen, dass es komplett übertrieben ist, sich mit violett schillernden Augenlidern, dunkelbraunem Lippenstift und Fake-Wimpern einen Kaffee zu holen, aber ich sage immer, man soll sich so anziehen und schminken, wie es einem gefällt – und wenn es nur für den Supermarkt ist. Schließlich macht man das alles ja für sich selbst und weil man sich so wohl fühlt. Zumindest geht es mir so.

Während ich den kurzen Weg bis zum Café an der Ecke spaziere, denke ich mir, dass der Tag heute doch nicht ganz so schlimm geworden ist, wie befürchtet. Ich könnte wirklich wieder die Augen über die pessimistische Einstellung verdrehen, die ich manchmal habe. Ich neige eben hin und wieder zu einem solchem Denken, auch wenn ich eigentlich von Grund auf gar nicht unbedingt so drauf bin.

Schon als die Glastür mit dem abgewetzten Holzgriff in Sicht kommt, merke ich, dass irgendwas... anders ist. Etwas stimmt nicht.

Ich kann nicht genau sagen, woran ich das festmache, doch ich habe einfach dieses Gefühl, dass irgendwas anders ist. Unwillkürlich verspüre ich ein schlechtes Gewissen, da ich schon seit bestimmt zwei oder drei Wochen nicht mehr hier war. Ich habe es immer sehr genossen mit den beiden Inhabern (eine ältere Frau Namens Darcy und ihr Ehemann Bob) zu quatschen und die beiden haben sich bestimmt auch schon gefragt, wo ich so lange bleibe.

Ich beschleunige meine Schritte, bis ich den Griff in der Hand habe und ein wenig schwungvoller die Glastür öffne, als beabsichtigt. »Hoppla«, entfährt es mir, als die Tür leicht an der Wand abprallt.

Auf dem Weg zur Theke, hinter der gerade niemand steht, merke ich, dass das Café weniger lebhaft wirkt als sonst. Außer einer Person ist niemand da. Um die Uhrzeit platzt das Café eigentlich aus allen Nähten... vielleicht war es ja das, was ich aus der Entfernung wahrgenommen habe.

Ich checke die Auswahl in der Glasvitrine ab und stutze. Außer einem Schokohörnchen, einer Zimtschnecke und ein paar Croissants ist nicht viel da. Einige Bretter sind sogar komplett leer.

Ich trete zurück an den Tresen und warte ein bisschen. »Hallo?«, rufe ich nach einer Weile probehalber. Ein Poltern ertönt aus einem der Mitarbeiterräume. »Moment!«, ruft eine Stimme, die weder nach Darcy, noch Greg klingt. Trotzdem kommt sie mir irgendwie bekannt vor...

Und als der Mensch, der zu der Stimme gehört, erscheint, weiß ich auch, wieso. Ich erstarre. Kurz spiele ich mit dem Gedanken, einfach umzukehren und abzuhauen. Doch ich kann mich zusammenreißen und bin sogar dazu in der Lage, eine relativ unbeteiligte Miene zur Schau zu stellen. Das kann doch nicht wahr sein!, denke ich.

»Ach, sowas. Hallo«, sagt der Typ, der mich vor dem schlimmsten Date meines Lebens gerettet hat.

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