D R E I U N D Z W A N Z I G

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Ich bringe es schließlich irgendwann über mich, meinen Computer zur Reparatur zu bringen. Es stellt sich heraus, dass Silas recht hatte und nur meine Grafikkarte ausgetauscht werden musste.

Seit der Sache mit ihm sind mehrere Tage vergangen und ich merke bereits, wie ich langsam aber sicher aus meinem apathischen Tief rauskomme. Ich kann das Wetter genießen, wenn es mal schön ist – sogar über einen kleinen Regenschauer konnte ich mich gestern freuen – und ich sitze wieder konzentriert an meinem Schreibtisch und arbeite. Endlich bin ich wieder dazu in der Lage, Videos zu schneiden, Beiträge zu erstellen und weitere Entwürfe zu machen. Bis jetzt war mir gar nicht in vollem Umfang klar, wie sehr ich doch meinen Rechner vermisst habe. Schätze, ich war zu sehr von Silas' Anwesenheit benebelt.

Sobald ich an ihn denke, spüre ich einen sehr schneidenden, tiefen Schmerz in der Gegend meines Zwerchfells.

Ich schüttle entschlossen den Kopf. Nein, ich erlaube es mir nicht, an ihn zu denken. Nie wieder. Die Zeit, die ich bereits darin investiert habe, um die verlorene Zukunft von uns beiden zu trauern, ist schon viel zu viel gewesen. Ich will mich endlich wieder schöneren Dingen widmen.

Wenn ich mir die ganze Situation aus der Ferne ansehe – bis zu einem gewissen Grad kann ich mich schon von dem ganzen distanzieren – wird mir immer wieder aufs Neue klar, dass ich Silas im Grunde genommen doch gar nicht richtig kenne. Kann es vielleicht sogar sein, dass ich mich einfach nur in die Vorstellung von ihm verliebt habe?

Kurz denke ich darüber nach und komme zu dem Schluss, dass es nicht so ist. Allerdings ist es dennoch eine unbestreitbare Tatsache, dass ich Silas nicht besonders lange oder gut kenne.

Ich weiß einige Dinge über ihn, doch die wenige Zeit, die wir miteinander verbracht haben und seine tendenziell verschlossene Art haben nicht viel dazu beigetragen, dass wir uns tiefer kennenlernen.

Ich versuche, mich nicht erneut in den Gedanken daran zu verlieren, dass es uns wohl nicht mehr möglich sein wird, uns näher kennenzulernen. Manche Dinge sollen anscheinend nicht sein.

Wer weiß, vielleicht ist es sogar besser so, dass Silas sich nicht mit mir in irgendwas stürzen wollte, wenn er selber noch so viel Ballast mit sich rumträgt. Ihr hättet das doch gemeinsam bewältigen können. Ich schüttle den Kopf über meinen eigenen Gedanken. Manchmal sind die Dinge nicht so einfach wie sie scheinen. Zumindest versuche ich mir das einzureden.

Ich schüttle den Kopf und ärgere mich darüber, dass ich mich schon wieder in meinen Gedanken verloren habe, obwohl ich genau das doch nicht wollte. Ich atme tief durch und fokussiere meine Aufmerksamkeit auf die Arbeit, die vor mir liegt. Es gibt zwei Kooperations-Anfragen von nicht unbekannten Marken, die noch unbeantwortet in meinem Postfach liegen. Auch darüber bin ich nun wieder in der Lage, mich zu freuen. Es motiviert mich schon ungemein zu sehen, dass die Mühe der letzten Jahre nicht umsonst war und meine Arbeit geschätzt wird.

Gerade als ich mich wieder in die Video-Bearbeitung stürzen will, sehe ich, dass das Display meines Handys wie wild leuchtet. Da ich die Benachrichtigungen meiner Social-Media-Accounts nicht abgestellt habe, ist es völlig normal, dass mir ständig eingegangene Kommentare, Follows und solche Dinge angezeigt werden. Doch die Kommentare, die mir gerade angezeigt werden, sind nicht normal. Mir schwant Böses.

Resigniert nehme ich mein Handy zur Hand und sehe mir das genauer an.

Wie erwartet handelt es sich um hässliche, Hass-getränkte Kommentare. Diesmal kommen sie von einem anderen Account als gestern, denn diesen habe ich blockiert. Doch irgendwas sagt mir, dass es sich um die gleiche Person handelt, die sich einfach ein neues Profil erstellt hat.

»Ich habe noch nie in meinem Leben ein so verflucht nervige Stimme gehört. Mach doch wenigstens den Ton aus, wenn du dir das ganze Zeug ins Gesicht klatscht, wir müssen deine Stimme nicht dazu hören!«

Ich fühle mich in meiner Annahme bestätigt, dass es die selbe Person wie gestern ist. Der Username ist wieder eine Kombination aus Buchstaben und Zahlen. Auch der Satzbau wirkt vertraut. Ich bin da jedoch keine Expertin, es ist lediglich ein Instinkt.

Als ich mir die Zahlen genauer ansehe, bringen sie irgendwas in mir zum Schwingen. Sie erinnern mich an etwas, doch ich kann einfach nicht festmachen, woran... und wenn ich mir die Zahlen von gestern vor Augen halte, geht es mir da rückblickend ähnlich.

Im Namen gestern waren die Zahlen Drei, Null und acht enthalten. Heute sind es Sechs, Null, Eins und nochmal die Sechs gewesen. Mathe war noch nie meine Stärke und schon in der Schule habe ich immer länger gebraucht, um die Zusammenhänge zu sehen. Doch irgendwas an diesen Zahlen irritiert mich.

Ich beschließe, mich später nochmal damit zu beschäftigen und mache mich wieder an die Arbeit. Doch zuerst melde und blockiere ich auch diesen Account. Diesmal bin ich auch beim Löschen der Kommentare schnell genug, dass ich die Flut an bösen Worten stoppen kann, bevor sie richtig Fahrt aufnimmt.

...

Als ich am nächsten Tag im Supermarkt an der Käsetheke stehe und eine Frau vor mir in der Schlange sehe, die Susann zum Verwechseln ähnlich sieht, beschließe ich, dass es mal wieder an der Zeit wäre, mich vorsichtig zu melden. Ich will einfach, dass sie daran erinnert wird, dass da jemand ist, der sie gern unterstützt.

Es wird sicher noch eine Weile dauern, bis ich mein schlechtes Gewissen David gegenüber loswerde, weil ich ihn viel länger ›hingehalten‹ habe, als ich eigentlich wollte und von der Sache mit Silas will ich sicher nicht nochmal anfangen – aber trotzdem kommt es mir langsam wieder so vor, als könnte ich mir meine Probleme vornehmen. Ich fühle mich sehr viel erholter und gefasster nachdem ich mir ein paar Tage Zeit gegeben habe, um einfach nur in der Wohnung zu hocken und traurig zu sein. Natürlich macht mir alles immer noch zu schaffen, aber mir kommt es bereits so vor, als wäre der Berg an Sorgen, die ich noch vorher hatte, um einiges geschrumpft. Mein Computer funktioniert zum Beispiel wieder, ich bemühe mich darum, wieder ein gutes Verhältnis zu Susann herzustellen (soweit es in meiner Macht steht zumindest) und mit diesen merkwürdigen Hass-Kommentaren werde ich auf jeden Fall auch fertig.

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