Z W A N Z I G

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Gänsehaut breitet sich auf meinem gesamten Körper aus. Ich kann einfach nicht glauben, was gerade passiert. »Ja«, hauche ich. Er soll es mir zeigen.

Silas' Lippen streifen meine Haut. Dann gibt er mir einen federleichten Kuss auf die Wange und... erstarrt schlagartig. Schließlich entfernt er sich ruckartig. Ich bin so perplex vom Verlauf der ganzen Situation, dass ich nicht dazu imstande bin, etwas zu sagen. Ich starre Silas einfach nur an, der ein plötzliches Interesse an dem Stoff gefunden hat, aus dem mein Sofa gemacht ist.

»Silas? Was... war das gerade?«, schaffe ich es, hervorzubringen.

Er schluckt. Fährt sich übers Gesicht, durch die Haare. Meidet meinen Blick. Verdammt nochmal!

»Silas!«, rufe ich jetzt. Er zuckt zusammen. Meidet meinen Blick noch immer. Tief, sehr tief atmet er dann durch und schafft es anschließend, mich für eine volle Sekunde anzusehen. Irgendwann – ich habe jedes Gefühl für Zeit verloren – erhebt er sich und geht aus dem Raum.

»Silas, warte!«, rufe ich ihm hinterher, doch er lässt sich nicht davon aufhalten. Als die Tür hinter ihm mit einem Klicken ins Schloss fällt, erwache ich aus meiner Starre. Hastig rappele ich mich ebenfalls von meinem Sofa hoch, greife mir meine Schlüssel aus der Schale auf der Kommode im Flur und renne ihm hinterher.

Er ist wirklich verdammt schnell, denn als ich im Treppenhaus angelange, höre ich keine Schritte mehr. Er muss also bereits draußen angekommen sein.

Ich tue mein bestes, um nicht die Stufen herunterzustürzen, als ich ihm weiter hinterher eile. Irgendwie schaffe ich es, lebendig im Erdgeschoss anzukommen. Ich stürze nach draußen und blicke mich nach einer groß gewachsenen, dunkel gekleideten Gestalt mit einem schwarzen Haarschopf um. Es ist bereits dunkel, deswegen fällt es mir schwer, ihn auszumachen... Da ist er!

Ich kann ihn einige Meter in der Ferne sehen, wie er sich in sehr schnellen Schritten vorwärtsbewegt. Ich bin zwar keine kleine Person, aber er ist dennoch um einiges größer als ich und hat definitiv längere Beine. Das ist verdammt unfair, denn er kann sich so sehr viel schneller fortbewegen. Mir bleibt also gar keine andere Wahl, als zu rennen.

»Silas! Jetzt bleib doch stehen, Mann!«, rufe ich gleichermaßen atemlos und frustriert. Ich rechne nicht damit, dass er auf mich hört und bin umso überrumpelter, als er es tatsächlich tut und stehen bleibt. Ich verlangsame meine Schritte bis ich schließlich japsend mit in die Seiten gestützten Armen und hängendem Oberkörper ankomme.

Silas ist kurz davor gewesen, die Wohnsiedlung zu verlassen, doch wir befinden uns noch bei der großen Wiese mit den Sitzgruppen, die vor den Häuserblöcken angelegt worden ist. Der rationale Teil meines Gehirns drängt mich dazu, ihn zu einer der Bänke zu schleifen, da man sich so viel besser unterhalten könnte. Doch ich bin noch so schockiert und durcheinander wegen der Situation, dass ich zu nichts anderem im der Lage bin, als ihn anzustarren – obwohl mir an die tausend Wörter auf der Zunge liegen.

Er macht dummerweise seinerseits auch keinerlei Anstalten dazu, das Wort zu ergreifen. Sehr ungünstig, wenn man bedenkt, dass diese komische Spannung zwischen uns nicht ungelöst bleiben sollte. Ich bin einfach nur froh, dass er doch noch stehen geblieben ist. Nicht, dass es so wahnsinnig viel bringen würde, denn keiner von uns beiden kriegt die Zähne auseinander.

»Was... warum? Ich dachte...«, schaffe ich es dann doch, einen mickrigen Start hinzulegen. Immerhin scheint es ihn aus seiner Schockstarre zu reißen und er räuspert sich.

»Es tut mir leid, Romy. Ich war... das war dumm und unüberlegt. Viel zu impulsiv.«

Eigentlich sollte ich mich vor Freude im Kreis drehen bis mir schlecht wird, weil er endlich den Mund aufgekriegt hat – nur gefällt mir das, was er da gesagt hat, nicht so besonders.

»Soll das ein Witz sein?«, keife ich. Er scheint eine solche Ausdrucksweise nicht von mir gewohnt zu sein, denn Silas zuckt nur hilflos zusammen. Er öffnet den Mund, um etwas zu erwidern, doch diesmal lasse ich ihn gar nicht zu Wort kommen.

»Erst erzählst du mir irgendwas von Gefühlen, die du für mich hast, erklärst absolut gar nichts und rennst dann einfach weg! Wie scheiße ist das denn?!«, rufe ich, plötzlich wütend. Und viel zu laut, wie ich nun merke, als das Echo meiner Stimme von den Häuserwänden widerhallt.

Silas macht schon Anstalten, sich von mir abzuwenden und erneut das Weite zu suchen, doch ich komme ihm zuvor und packe ihn sanft, aber bestimmt am Ellenbogen. »Nein, das lassen wir mal schön sein! Wir sind Erwachsene und können uns auch wie verdammte Erwachsene unterhalten!«

Silas reibt sich mit seinen Händen über das Gesicht und nuschelt eine Entschuldigung. Dann sagt er, den Blick zu seinen Schuhspitzen gerichtet: »Ich bin sehr schlecht in sowas. Es tut mir leid.«

»Du musst dich nicht alle zwei Sekunden entschuldigen. Es wäre doch schon mal ein Anfang, wenn du... einfach nicht weglaufen würdest. Klingt das machbar?«

Ein Zucken umspielt seine Mundwinkel und für einen Moment sehe ich ihm an, dass er das gerade zum Teil ebenso komisch findet wie ich. Wenn ich nicht selbst in dieser Situation stecken würde, könnte ich vermutlich sogar darüber lachen. Wer weiß, vielleicht werde ich das irgendwann sogar trotzdem tun. Jetzt kann ich dem ganzen leider nicht genug Witz abgewinnen, um zu lachen.

Ich seufze tief und massiere mir mit geschlossenen Augen den Nacken. Dann suche ich Silas' Blick und halte ihn fest, sobald ich ihn gefunden habe. »Silas... kannst du bitte mit mir reden? Mir sagen, was dir gerade durch den Kopf geht?« Ich blicke mich um und füge hinzu: »Und können wir uns vielleicht auf eine der Bänke setzen? Ich komme mir langsam blöd vor, so tiefsinnige Gespräche mitten auf dem Fußgängerweg zu führen.«

Silas nickt lediglich geistesabwesend, begleitet mich aber ohne Zögern über die Wiese zu einer Gruppe von fünf im Kreis angeordneten Holzbänken, in deren Mitte ein kleiner Brunnen steht.

Schließlich sitzen wir – Silas am anderen Ende der Bank – und ich falte die Hände im Schoß. Ich muss den Drang bekämpfen, ihm die Worte aus der Nase zu ziehen. Er muss schon von sich selbst das Reden anfangen.

»Romy?«, kommt es schließlich zaghaft von ihm.

»Silas?«, erwidere ich.

Er schluckt, wieder still, und starrt auf den von Laternen gesäumten Weg einige Meter entfernt von uns.

»Es ist kompliziert«, murmelt Silas. Ich verdrehe die Augen. Die letzte Viertelstunde war so absurd, dass mich jegliche Nervosität mittlerweile verlassen hat. Fast zumindest.

»Ach, was du nicht sagst. Jetzt erzähl endlich.«

Er nickt und kommt meiner Aufforderung nach.

HerzschaumWo Geschichten leben. Entdecke jetzt