Vom höchsten Turm der Burg aus ließ Simon, gehüllt in einen wärmenden Umhang, seinen Blick über die Landschaft schweifen.
Irgendwo dort, in den Tiefen des Waldes, musste das Dorf der Werwölfe liegen, doch bis jetzt war es seinen Spähern nicht gelungen, das geheime Versteck dieser räudigen Hunde zu finden.
Die Mittagssonne schien auf ihn herab, aber mehr als eine leichte Müdigkeit konnte sie in ihm nicht auslösen. Die Zeit, in der Vampire die Sonne meiden mussten, war lange vorbei.
Immer wieder glitt der Blick des Vampirs über die Wipfel der Bäume, bis der Mann plötzlich und fast schon ruckartig seine Faust in die Luft reckte.
Kurz darauf näherte sich ein Rabe der Burg mit großen Flügelschlägen und landete auf der dargebotenen Hand.Beinahe zärtlich strich Simon dem Vogel über das Gefieder.
„Hast du deinen Auftrag erledigt, Cora?"
Mit schräg gelegtem Kopf sah der Rabe den Mann aus intelligent blickenden Augen an.
Simon lächelte zufrieden, als er die Antwort in den Augen des Tieres las.
„Du hast also das Dorf der Werwölfe gefunden?" Der Vogel nickte leicht mit dem Kopf und starrte seinen Herrn und Meister dann an.
Der Vampir schien der stummen Rede des Raben aufmerksam zuzuhören.
Je länger er das Tier ansah, desto zufriedener schien er zu werden.
Schließlich nickte er dem Tier zu. „Du weißt, was deine Aufgabe ist, Cora."
Der Vogel krächzte einmal laut auf, stieß sich von der Faust des Vampirs ab und flog zurück in Richtung Wald.
Simon wandte sich ab und stieg den Turm herunter.„Hoheit ...?", empfing ihn Linus am Fuß der Treppe.
„Die Fürsten erwarten Euch in Eurem Büro."
Mehr als nur skeptisch zog der Vampir eine Augenbraue hoch.
Er wollte gerade an seinem Diener vorbei gehen, als dieser ihn noch einmal aufhielt.
„Einige von ihnen wirken alles andere als zufrieden, Hoheit."
Simon brummte leicht. „Danke, Linus."
Langsam ging der Herrscher der Vampire die Gänge entlang. Er hatte es nicht eilig. Die Fürsten konnten ruhig noch etwas warten.
Schließlich kam er vor seinem Büro zum Stehen.
Es missfiel ihm sichtlich, dass die anderen Vampire die Frechheit besessen hatten, sein Büro ohne seine Erlaubnis zu betreten und das würde er sie spüren lassen.
Ruckartig öffnete er die Tür. Sofort verstummten die Gespräche und die Männer sahen ihn an.
Schweigend schritt er an ihnen vorbei, warf seinen Umhang zur Seite und nahm hinter seinem Schreibtisch Platz.Verlegen begannen die ersten Fürsten von einem Bein auf das Andere zu treten, als Simon sie nach wie vor schweigend ansah.
„Hoheit, wir müssen mit Euch reden."
Ein noch recht junger Vampir trat einen Schritt nach vorne.
Simon hob leicht, fast schon amüsiert, die Augenbraue, als er sah, wie die anderen einen Schritt zurück machten.
„Was möchtest du mir sagen, Levin?"
Der Angesprochene öffnete mehrmals den Mund, bevor er schließlich doch sein Anliegen vorbrachte.
„Habt Ihr bereits entschieden, ob Ihr das Angebot der Wölfe annehmen werdet, Hoheit? Der Krieg geht nun wirklich schon viel zu lange..."
„Das habe ich. Und ich habe es ausgeschlagen.
Die Hunde sehen doch lediglich ihre Felle davon schwimmen. Ihr Angebot zeigt nur, wie verzweifelt sie sind. Ich habe ihnen daher im Gegenzug ein ähnliches Angebot gemacht. Zwar bezweifle ich, dass sie es annehmen werden, doch wir werden uns mit Sicherheit nicht von ihnen erpressen lassen."Levin schüttelte fassungslos den Kopf.
„Es war doch nun wirklich ein gutes Angebot, Hoheit."
Sein Blick wandte sich nach hinten zu den anderen Fürsten, doch mit Genugtuung registrierte Simon, dass sich diese von Levin zu distanzieren schienen.
Er lächelte milde. „Kein schönes Gefühl, wenn die vermeintlichen Mitstreiter auf einmal nicht mehr hinter einem stehen, nicht wahr?"
Levin wurde blass und sank vor seinem König auf die Knie.
„Ich bitte um Verzeihung, Hoheit."
Simon seufzte. „Steh auf, Levin. Für dieses eine Mal sei dir dein Fehlverhalten verziehen. Ich erwarte jedoch, dass du in Zukunft zuerst das Gespräch mit mir suchst, bevor du versuchst, andere gegen mich aufzuhetzen. Noch einmal werde ich nicht darüber hinwegsehen, sondern es als Versuch zum Aufruhr werten."
Sichtlich erleichtert kam Levin auf die Füße.„Damit wir uns richtig verstehen: ich begrüße es durchaus, wenn Ihr alle hier mir offen die Meinung sagt. Dafür habe ich Euch zu meinen Fürsten ernannt. Doch erwarte ich dabei dennoch Aufrichtigkeit von Euch."
Sämtliche Männer senkten betreten die Köpfe.
Gleichzeitig sanken sie auf ein Knie und legten die rechte Hand auf die Brust.
„Wir geloben Euch ewige Treue, Hoheit. Mit all unserer Kraft und mit all unseren Fähigkeiten werden wir Euch mit Rat und Tat zur Seite stehen", wiederholten sie den Schwur, den sie bereits bei ihrer Ernennung geleistet hatten.
Zufrieden nickte Simon.
„Ihr könnt aufstehen. Im Übrigen gibt es eine positive Wendung. Wir wissen jetzt, wo das Dorf unserer Feinde liegt."Lauter Jubel erfüllte den Raum und Simon lehnte sich mit einem zufriedenen Schmunzeln zurück.
„Wenn das alles war, könnt Ihr nun gehen. Ich werde Euch zur Besprechung zusammen rufen lassen."
Noch immer lächelnd wartete Simon ab, bis auch der letzte Fürst das Büro verlassen hatte. Doch kaum, dass sich die Türe geschlossen hatte, fiel seine Fassade und das Lächeln erstarb.
Ruckartig schob der König den Stuhl zurück und stand so abrupt auf, dass dieser ins Wanken geriet.
So gelassen, wie er sich gegenüber den anderen Vampiren gegeben hatte, war er bei weitem nicht. Vielmehr erfüllte ihn vor allem das Verhalten seines jüngsten Fürsten mit Sorge. Wenn es sogar diesem Jüngling gelang, die Loyalität der Anderen – wenn auch nur kurzfristig – ins Wanken zu bringen, war die Situation ernster, als er gedacht hatte.Wie so oft begann Simon, unruhig in seinem Büro auf und ab zu schreiten.
Er musste endlich Fortschritte machen, zumindest Teilsiege erringen. Andernfalls müsste er ernsthaft um die Loyalität seiner Krieger fürchten.
Fluchend schlug Simon mit der Faust gegen die Wand neben dem Kamin, um den Rissen im Mauerwerk einen weiteren kaputten Stein hinzu zu fügen.
Doch anstatt dass der Stein unter seinem Schlag zerbröselte, gab er nach und schien sich nach hinten zu verschieben.Simons Erstaunen wuchs weiter, als sich knapp daneben ein geheimes Fach auftat.
Beide Augenbrauen hochgezogen ging Simon vor der kleinen Höhle in die Knie und blickte hinein.
Der König stieß einen leisen Pfiff aus, während er mit der Hand bereits in das Dunkle griff.
Seine Finger strichen über das alte Pergament, dessen Ränder unter seinem Griff leicht brachen und zu Staub wurden.
Simon verharrte. Behutsam und nun mit beiden Händen holte er die antike Schriftrolle hervor und drehte sie vorsichtig, bis er das Siegel sehen konnte.
Ein Lächeln setzte sich auf sein Gesicht.
„Urgroßvater Julius ... Welche Nachricht hast du mir da wohl hinterlassen? Ich bin mir fast sicher, dass sie uns gerade jetzt helfen wird."Mit dem Brief in der Hand kehrte Simon an seinen Schreibtisch zurück, nahm Platz und blickte nachdenklich auf das Schriftstück in seinen Händen.
Vorsichtig legte er das Pergament ab und griff nach seinem Dolch, um behutsam das Siegel zu lösen.
Ein kaum wahrnehmbares Knirschen erklang, als das alte Wachs zerbrach und so den Inhalt frei gab.
Zufrieden steckte Simon den Dolch wieder weg und rollte langsam den alten Bogen auf.
Dann beugte er sich dicht über das Papier, um die bereits stark verblichene Schrift lesen zu können.
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Die Julius Chroniken - Teil 1: Die Prophezeiung
VampiroAus der alten Prophezeiung: Zwei Wesen so unterschiedlich wie Tag und Nacht Von den Göttern geschaffen und für den Frieden gemacht Nach langer Nacht wird der neue Tag beginnen, doch für eine der Seiten gibt es kein Entrinnen. Die Macht ins unendl...