Der Gast - DrownInWords

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Der Regen prasselte auf die dicken Pflastersteine am Hauptplatz und füllte die Ritzen mit Wasser. Mein Mantel klebt an mir wie eine zweite, lederne pechschwarze Haut, doch ich tröste mich mit dem Gedanken, dass ich bald da bin. Kälte verspüre ich nicht, dazu bin ich sie schon viel zu sehr gewöhnt. Gemächlich setze ich mich in Bewegung, enge Gassen, hohe steinerne Häuser, in denen noch vereinzelt Licht brannte. Ein vermooster Torbogen schützte mich kurz vor dem eisigen Nass, doch ich musste weiter. Ich ließ den Stadtkern hinter mir, mein Ziel lag hinter dem Wäldchen am Rande der Stadt. Wassertropfen schlugen in die Pfützen ein, die immer tiefer wurden. Alles Leben außerhalb der schützenden Häuser schien erloschen, selbst die Tiere des Waldes hatten sich in ihren Bauen verkrochen. In der Ferne hörte man das dumpfe Geräusch der Kirchenglocken. Mitternacht, es wurde Zeit. Ich stand vor einem kleinen Hof, dessen Fensterläden im aufkommenden Wind klapperten, legte die nachtschwarzen Finger um das kalte Metall des Türgriffs und öffnete die Tür. Die Wärme spürte ich nicht, meine Augen huschten bloß wie flinke Eichhörnchen durch den Raum. Ein altes Holzbett, umringt von unzähligen Familienmitgliedern, die um das Leben des kranken Jungen beteten. Ich schloss die Tür und trat näher heran, suchte den glasigen Blick des Jungen. Er sah mich direkt an, fragend, denn er erkannte mich nicht. »Junge,« krächzte ich und streckte den dürren Arm aus. »Junge, komm mit mir. Komm mit mir in die Ewigkeit.« Schwach und zittrig begann er seinen Arm auszustrecken, versuchte mit aller Kraft, die Meine zu berühren und so seinen Weg zu besiegeln. Unsere Finger berühren sich und mein Auftrag hat sich erledigt. Ich lächle und drücke seine Hand. »Komm mit mein Junge, dein Leiden hat nun ein Ende.«

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