Erinnerungen

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(Johns POV)

Ich kann nicht atmen. Es ist, als würde mich jemand in Erinnerungen ertränken. Ich versuche, entspannt zu wirken, gleichgültig, unbekümmert, so, wie Sherlock es immer tut, aber ich kann es nicht. Alles in mir zieht sich zusammen, meine Eingeweide, mein Herz, meine Muskeln. Meine Hände zittern, meine Knie sind zu weich, um noch stehen zu können. Ich lasse mich auf den Badewannenrand sinken, es ist eine ergebene, schwache Bewegung. Als hätte mein Körper das verstanden, gegen das mein Kopf noch kämpft.
Ich bin nicht bereit. Für gar nichts von dem hier. Aber ich bin hierhergefahren, habe mich in den verdammten Flieger gesetzt. Weil ich dachte, dass ich stärker bin. Dass ich das schaffen kann. Jetzt frage ich mich, wem ich etwas vorgemacht habe. Sherlock oder mir. Ich glaube, uns beiden.

Mein Herz rast, das Badezimmer pulsiert vor meinen Augen, verschwimmt zu einem wirren Gemisch aus Farben und Fliesen. In meiner Brust zieht sich alles schmerzhaft zusammen, wird immer kleiner, bis ich keine Luft mehr bekomme. In meinen Ohren rauscht es, das Rauschen schwillt an, wird so laut, dass ich taub bin für die Außenwelt. Ich weiß nicht, ob ich weine oder schreie oder ob ich stumm bleibe, spüre nur den plötzlichen Schmerz in mir, ein Schmerz wie hundert Messer in der Brust. Mein Magen verkrampft sich, meine Eingeweide ziehen sich zusammen, ich muss würgen, kann nicht mehr denken. Als würden die Erinnerungen meinen Verstand ausschalten. Und dann sind sie plötzlich überall. Und sie sind alle tot.
Ich sehe sie fallen, höre sie schreien, Schreie, die ich niemals vergessen werde. So viel Qual und Schmerz und Angst in einem Laut. Ich habe vorher noch nie jemanden so schreien gehört. Ein kurzes, schrilles Geräusch, dann Stille. Blanke Gesichter, leere Augen, dunkelrotes Blut. Überall Blut.

Es klopft an der Tür, aber ich höre es kaum. Mein Kopf ist wie in Watte, meine Glieder gelähmt. Ich ringe nach Luft, will atmen, aber ich kann es nicht. Mein Brustkorb ist eng, meine Lunge brennt, mein Herz hämmert panisch gegen meine Knochen. Atme, Atme!, schreit es, überschlägt sich, stolpert, rast weiter. Der Geschmack in meinem Mund ist salzig und metallisch, meine Tränen vermischen sich mit dem Blut meiner Unterlippe. Meine Sicht verschwimmt, ich rutsche vom Badewannenrand und runter auf die kalten Fliesen. Ich spüre sie nicht, nur, dass sie da sind, habe das Gefühl, endlos zu fallen.

„John?"

Plötzlich kann ich wieder atmen. Hektisch schnappe ich nach Luft, versuche, so viel davon zu bekommen, wie es nur geht, meine Lunge brennt, aber ich ignoriere den einengenden Schmerz, atme weiter, schließe die Augen, konzentriere mich nur noch auf das Gefühl in meiner Brust, auf meine Lunge, die wieder mit Sauerstoff gefüllt wird, auf jeden panischen Atemzug.

„John? Geht es Ihnen gut?"

Ich will antworten, aber ich kann nicht. Gleich, flüstert die Stimme in meinem Kopf. Nur noch ein bisschen mehr Luft ...
Meine Hände umklammern den Rand der Badewanne, ich will mich aufrichten, aber meine nassen Finger rutschen immer wieder ab. Ich bleibe sitzen, spüre das Kribbeln unter meiner Haut, es ist, als würden meine tauben Glieder langsam aus einem Winterschlaf erwachen.

„John, das Essen fängt bald an."

Meine Hände verkrampfen sich. Das Abendessen. Der Moment, wo wir uns alle wiedersehen werden. Der Moment, vor dem ich mich schon gefürchtet habe, bevor wir überhaupt losgefahren sind.

„John?" Es ist das vierte Mal, dass Sherlock meinen Namen sagt, und ich weiß nicht, ob er eher besorgt oder genervt dabei klingt. „Machen Sie die Tür auf."

Ein Soldat verliert nie die Kontrolle, wispert die Stimme meines Vorgesetzten und Ausbilders in meinem Kopf. Er darf es nicht. Egal, was er sieht oder hört oder fühlt - er verliert nie die Kontrolle. Ich richte mich auf, langsam, unbeholfen. Als würde ich meinen Körper zum ersten Mal benutzen. Meine Knie sind weich, meine Schritte schwankend, als ich einen Fuß vor den anderen setze. Immer weiter nach vorn und immer weiter in Richtung Tür. Dann erreiche ich sie, meine zitternden Finger greifen nach dem Schlüssel, er entgleitet mir, meine Hände sind schwitzig und kalt, dann kann ich ihn umdrehen. Einmal, zweimal, dreimal. Das Schloss klackt, die Tür öffnet sich. Und ich sehe direkt in durchdringendes, stürmisches Eisblau.
Karibisches Blau
, denke ich.
„Wir können gehen", sage ich.
Und doch bleiben wir beide unbewegt voreinander stehen.

PROMISE ME || LemonleliWo Geschichten leben. Entdecke jetzt