Selinas Dad

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Joshs Sicht:

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Joshs Sicht:

Ich konnte mich nicht davon abbringen, Selinas Hand zu halten, als wir uns auf dem Weg zu dem Zimmer von ihrem Dad befanden. Ich wollte irgendwie signalisieren, dass sie das nicht allein durchstehen musste.

Die Krankenschwester, die uns begleitete, musste wahrscheinlich denken, dass ich ihr Freund war, aber das war mir in diesem Moment mehr als egal.

Als wir vor seiner Tür standen und die Krankenschwester kurz anklopfte, war es nicht nur Selina, die in dieser Sekunde nervös war. Ich war gespannt, was für einem Mann wir gleich gegenüberstehen würden und was er Selina zu sagen hätte. Keine Entschuldigung der Welt würde wahrscheinlich dafür ausreichen, was er ihr angetan hatte.

Die Tür wurde geöffnet und zu meiner Überraschung waren in dem Zimmer einige Personen vorzufinden. Ich entdeckte zwei junge Mädchen, die ungefähr im gleichen Alter wie ich und Selina sein musste und eine Frau, die altersmäßig Eva sehr nahe zu sein schien.

Ich begriff schnell, dass es sich um Selinas Stiefschwestern und Stiefmutter handeln musste. Anscheinend hatte der Gute sich in Chicago ein neues Leben aufgebaut und von Neuem begonnen.

Die wichtigste Person überhaupt in diesem Zimmer lag im Bett und sah mehr als schwach aus. Selinas Dad sah sowas von nicht gut aus. Seine Haut war viel zu blass und die dicken Augenringe konnte man selbst von Weitem sehen. Er war knorrig und dünn und es war mehr deutlich, dass er gesundheitlich ziemlich schwach zu sein schien.

Die Wut, die ich ihm gegenüber vor einigen Minuten gespürt hatte, verschwand und ich hatte stattdessen Mitgefühl für ihn. Ich wusste nicht, was ich an seiner Stelle tun würde, wenn mir mein Arzt gesagt hätte, dass ich nur wenige Monate zu leben habe.

Ich musste unwillkürlich an meinem Opa denken, der in seiner letzten Lebensphase so gut wie gar nicht mehr laufen konnte. Es musste schrecklich sein, zu wissen, dass man sterben würde und nichts dagegen tun konnte.

Ans Bett gefesselt zu sein und darauf zu hoffen, dass man diese Schmerzen hoffentlich nicht mehr lange aushalten musste. Ich wollte es mir gar nicht erst vorstellen.

,,Selina.'' Selinas Dad lächelte, als er seine Tochter bemerkte und diese Reaktion zeigte mir bereits, dass sie ihm mehr als wichtig war. ,,Komm näher ans Bett und lass dich genauer anschauen.''

Er streckte sogar die Hand nach ihr aus, als sie näherkam und man sah, wie viel Kraft ihn das schon kostete, da er überall von Schläuchen umgeben war.

,,Ich kann gar nicht glauben, dass du da bist. Erzähl wie war dein Flug? Wie geht es deine Mutter? Erzähl mir alles.''

Ich erkannte es in Selinas Gesicht, dass sie gerade sehr scharf auf Smalltalk war. Es gab wichtigere Dinge, die sie besprechen mussten. Daher wunderte es mich nicht, dass sie eine nicht gerade erfreute Miene hatte und nicht darauf einging.

,,Wer sind die anderen Leute im Zimmer, Dad?'', fragte sie ihn und ich biss mir auf den Mund um nichts zu sagen, weil ihr das ihr Vater selbst erklären musste.

,,Darf ich vorstellen. Meine Frau Melinda, deine Halbschwester Noele und Stiefschwester Helen'', machte er uns mit seiner neuen Familie bekannt.

Ich hatte es doch gewusst ...

,,Es freut mich, dich endlich kennenzulernen, Selina.''

Die Frau, die scheinbar Melinda hieß, ging auf Selina zu und schloss sie in eine Umarmung, bei der ich mir sicher war, dass sie diese gerade absolut nicht wollte.

Melinda tat dasselbe auch mit mir und ich erwiderte diese Geste nur halbherzig. Ihre Töchter reichten uns kurz die Hand. Insgesamt war dass alles eine mehr als seltsame Situation.

,,Schatz, es wäre wirklich nett, wenn ihr uns für einen kurzen Augenblick alleine lassen könntet'', bat Selinas Dad und mir wurde klar, dass auch ich damit gemeint war.

Er wollte einen Moment allein mit seiner Tochter haben und diesen sollte er bekommen. Ich guckte kurz Selina an, um nonverbal nachzufragen, ob das für sie okay war und sie nickte mir daraufhin zu.

***

,,Du bist ihr Freund, nicht wahr?'', wurde ich von Melinda gefragt, als wir draußen im kahlen, schneeweißen Flur standen.

Weil ich viel zu schwer zu erklären war, was genau Selina und ich nur waren, nickte ich einfach nur und ließ sie in dem Glauben, dass wir in einer Beziehung waren. Es ging sie doch eigentlich nicht mal etwas an, in was für einen ich zu Selina stand.

,,Ich glaube, ich habe mich noch gar nicht richtig vorgestellt. Ich heiße Josh'', stellte ich mich höfflich vor.

,,Ich bin so froh, dass ihr gekommen seid, Josh. Weißt du ... Grayson hat seine Tochter wirklich schrecklich vermisst. Er hat sich aber irgendwann leider nicht mehr getraut, sich bei ihr zu melden'', beichtete sie mir und ich konnte einen großen Schmerz aus ihrer Stimme raushören.

Die ganze Situation schien also auch sie sehr mitgenommen zu haben.

,,Warum hat er sich irgendwann nicht mehr getraut, sich bei ihr zu melden?'', wollte ich von ihr wissen.

,,Er hat angerufen und ihr Briefe geschickt, aber Selina hat nie abgenommen und auch nie einen Antwortbrief zurückgeschickt. Er hat selbst seine Exfrau darum gebeten, zu fragen, ob sie ihn sehen möchte, doch sie hat es immer verneint. Sie wollte nicht mehr mit ihm zu tun haben und das hat er eines Tages akzeptiert.''

Melindas Tochter Noele tröstete sie, als ihr die Tränen kamen und gab ihr Taschentuch.

,,Entschuldige, dass ich so emotional darauf reagiere, aber selbst mir hat es wehgetan, zu sehen, wie mein Mann einsehen musste, dass die eigene Tochter nichts mehr von ihm wissen will. Und ja, ich weiß, dass es falsch war, dass er einen Tag auf den anderen verschwunden ist. Er hat es nicht besser gewusst und offensichtlich einen Fehler gemacht. Aber machen wir das nicht alle irgendwann mal? Als er die Diagnose Darmkrebs im Endstadium vom Arzt bekommen hat, habe ich ihn solange bearbeitet, bis er zum Telefon gegriffen und seine Tochter angerufen hat. Ich bin nun wirklich froh, dass er es getan hat und die beiden sich nun hoffentlich aussprechen können.''

,,Es tut Dad mehr als gut, dass er Selina endlich wiedersehen kann. So kann er bestimmt besser mit der ganzen Situation zurechtkommen und seine Seele findet so etwas Frieden'', war sich Noels Schwester Helen sicher.

Die drei Frauen, die sich wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich sahen, hatten mehr als recht. Es war wichtig, dass Selinas Dad seine Tochter ein letztes Mal sah, bevor er diese Erde verließ.

Er war immer noch ihr Vater, obwohl er einen großen Teil von Selinas Lebens nicht mitbekommen hatte, weil die beiden nicht in Kontakt standen.

Auch alle zukünftigen Ereignisse und besondere Augenblicke, in denen Erinnerungen geschaffen wurden, würde er nicht mehr mitbekommen.

Und auch wenn er für mich nicht der größte Sympathieträger war, wünschte ich es mir so sehr, dass die beiden die noch gemeinsame Zeit nutzen und erneut ein gutes Verhältnis aufbauen konnten.

Ich wünschte es mir vor allem für Selina, weil ich wollte, dass sie mit einem guten Gewissen an ihren Vater denken konnte, wenn es für ihn an der Zeit war, zu gehen.

Band 2 der Living Reihe - Living for the lectures you gave me ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt