Verletzlichkeit

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Joshs Sicht:

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Joshs Sicht:

Ich wusste, dass das Gespräch zwischen Selina und ihrem Vater nicht gut verlaufen sein musste, da mit gesenkten Schultern aus dem nach draußen trat. Ihr Gesichtsausdruck sprach Bände und mir tat sie in diesem Augenblick unglaublich leid.

,,Josh, können bitte wir kurz in die Cafeteria gehen und einen Kaffee trinken?'', bat sie mich, als sie vor mir stand.

Ich schenke Melinda und ihren beiden Töchtern einen vielsagenden Blick und wendete mich dann erneut Selina.

,,Aber sicher doch'', bejahte ich ihren Wunsch und wir machten uns gemeinsam auf dem Weg zur Cafeteria, die sich ein Stockwerk weiter unten befand. Ich ging zum Kaffeautomaten und ließ sie zwei Tassen heißen Kaffee machen. Wir suchten uns einen freien Platz bei einem Tische, die sich etwas weiter abseits von den anderen Leuten, die ebenfalls im Raum anwesend waren, damit wir unter uns sein konnten. Die Frage danach, was ihr Dad denn nun zu ihr gesagt hatte, saß mir brennend auf der Zunge, doch ich sprach sie nicht aus. Ich würde Selina nicht dazu zwingen, mir davon zu erzählen. Sie sollte es von sich aus sagen, wenn sie mit mir darüber reden wollte. Nach ein paar Minuten einvernehmlichem Schweigen rückte Selina mit der Sprache heraus und beichtete mir, was genau vorgefallen war. Dass es ihrem Dad psychisch nicht gut gegangen war und er irgendwann beschlossen hat, ein neues Leben zu beginnen. Dass er nicht stark genug gewesen war, um für die zerbrochene Beziehung zu seiner Tochter zu kämpfen. Dass er angeblich gemeint hätte, dass es manchmal besser wäre, das, was man am meisten liebte, gehen zu lassen. ,,Das hat er also zu dir gesagt?'', fragte ich und war genauso sehr bestürzt wie sie, als sie ihren Monolog beendete.

,,Er sagte, dass es manchmal besser ist, das, was man am meisten liebt, gehen zu lassen'', wiederholte sie sich, während sie einen Schluck von ihrem Kaffee nahm.

,,Man kämpft für das, was man wirklich liebt. Man lässt diese Person doch nicht einfach gehen.''

Ich konnte mir niemals vorstellen, Ellie gehen zu lassen, weil ich der Meinung war, dass sie ohne mich besser dran wäre. Sie war meine Schwester. Ich würde selbst für sie da sein, wenn sie mich wegstoßen würde und zu genervt von ihrem großen Bruder sein sollte. Für mich gab es da keine Alternative.

Aber nur weil ich diesen Gedanken nicht ganz nahvollziehen konnte, hieß das nicht, dass sich andere Menschen so fühlen konnten. Gerade wenn man psychisch am Arsch war, musste man sich erst recht vorkommen, als wäre man eine Last für andere. Gerade Männer machten sehr oft Probleme mit sich selbst aus, weil sie andere nicht mit diesen belasten wollten.

,,Was ist, wenn man glaubt, dass die Person besser ohne einen dran ist und man überzeugt ist nur eine Last zu sein?", warf ich ein.

,,Das ist doch Schwachsinn. Wieso sollte die andere Person besser ohne einen dran sein?''

Selina konnte das vermutlich nicht ganz nachvollziehen. Sie war eben eine Frau und keiner würde sie komisch angucken, wenn sie wegen etwas besonders emotional wurde. Sie war nicht damit aufgewachsen, dass man die eigenen Gefühle lieber für sich selbst behielt.

Selbst mein eigener Vater war mehr als gefühlskalt und hatte mich sogar angeschrien, als ich als kleines Kind geweint hatte, nachdem mir jemand meinen geliebten Fußball einfach so geklaut hatte. Ich hatte dafür von ihm Hausarrest bekommen und er hatte mir immer wieder eingetrichtert, dass richtige Männer niemals weinen würden. Ich hatte so gut wie kaum von ihm eine Umarmung bekommen, obwohl ich sie sie manchmal wirklich dringend gebraucht hätte. Mein Opa war selbst so gewesen und das erklärte mir zumindest, warum mein Dad so war. Wahrscheinlich wusste er es selbst nicht besser und aufgrunddessen lebte er mir genau die Werte vor, die ihm sein eigener Vater stets vermittelt hatte.

Und vielleicht fiel es mir genau wegen diesem vermittelten Rollenbild sehr schwer, mich mit meinen Gefühlen auseinanderzusetzten. Ich konnte es also Selinas Dad nicht wirklich vorwerfen, dass er als Mann sich niemandem verletzlich zeigen wollte. Schon gar nicht gegenüber der eigenen Tochter.

,,Für dich mag das ganze vielleicht unverständlich erscheinen. Aber nicht für deinen Vater. Er hat dir erzählt, dass er während der Ehekrise deiner Eltern ein gebrochener Mann war. Gerade Männern fällt es unglaublich schwer, sich verletzlich zu zeigen. Was ist, wenn er in seinem Kopf dachte, dass es besser für dich wäre keinen Vater zu haben als einen schwachen kraftlosen Mann?''

,,Ich hätte ihn als schwachen und kraftlosen Vater trotzdem genommen'', beharrte sie und ich glaubte ihr das.

Er war ihr Dad und sie hätte ihn auch als gebrochenen Mann lieb gehabt.

,,Das weiß ich. Ich versuche dir gerade nur seine möglichen Beweggründe zu erklären'', erwiderte ich, als ich nach ihren Händen griff, weil mein Bedürfnis, sie jetzt gerade in dieser schwierigen Situation zu berühren, so groß war.

,,Er war nicht zu schwach und kraftlos eine neue Familie zu gründen. Für Noele und Helen ist er sicher ein ganz toller Vater'', kommentierte Selina schnippisch, wobei sie probierte, meine Hände von ihren zu lösen.

,,Kannst du dir nicht vorstellen, wie beschämend es für ihn ist, dass er nicht um seine Tochter gekämpft hat, als er es hätte tun sollen? Was meinst du, was für Vorwürfe das mit sich bringt, wenn man nicht in dem Augenblick kämpfen konnte, in dem man es hätte tun sollen, weil man zu schwach war? Was ist da leichter? Das, was man am meisten liebt, gehen zu lassen oder einen Kampf festhalten, der schon längst ausgekämpft ist?'' Und weil Selina nun mal Selina war, wusste ich so schon, für was sie sich entscheiden würde. Sie hätte gekämpft, weil sie kein Mensch war, der schnell aufgab. Sie hätte gekämpft, weil es ihr so wichtig gewesen wäre, diesen Menschen in ihrem Leben zu behalten. Vermutlich hätte sie ebenso die Kraft dafür gehabt. Ihr Vater aber nicht, da es ihm alles andere als gut gegangen war. Und nun war es zu spät, er konnte es nicht mehr rükgängig machen. ,,Das unterscheidet euch. Du hättest gekämpft. Er nicht.'' Ich nahm einen großen Schluck vom Kaffee und schluckte das Zeug so schnell wie möglich runter. Was war das denn bitteschön für eine Plörre? Dieser Kaffee schmeckte einfach nur absolut scheußlich. Er war viel zu wässrig und besaß so gut wie kaum Geschmack. Allein beim Nachgeschmack schüttelte es mich fast. ,,Na toll. Mit jedem weiteren Schluck schmeckt dieser Kaffee noch beschissener'', beschwerte ich mich und konnte mir ein kleines Grinsen nicht verkneifen, als ich in Selinas Gesicht schaute.

Sie sah mindestens genauso begeistert aus vom Kaffee wie ich.

,,Ja der Kaffee hier ist wirklich beschissen'', gab sie mir Recht und ich hatte das Gefühl, dass ihr der Themenwechsel gut tat.

Band 2 der Living Reihe - Living for the lectures you gave me ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt