Ich wache von dem schrillen Geräusch meines Weckers auf. Total verschlafen boxe ich den Wecker von meinem Nachttisch. In der Küche wartet Mum schon mit einer Schüssel Müsli auf mich. Logan rennt mit seinem Baseballschläger um den Tisch. Ich verstehe nicht wie er um diese Uhrzeit schon so hellwach sein kann. Mum gießt mir Milch in mein Müsli, während ich aus dem Fenster schaue. "An was denkst du mein Schatz?", fragt mich Mum, aber ich kann nicht antworten. Ich bin zu sehr damit beschäftigt, an das zu denken, was Mr. Shiver gesagt hat, oder viel mehr an das, was er getan hat. Die ganze Nacht habe ich davon geträumt, wie er mich verfolgt. Wo soll ich zuerst anfangen zu suchen? Vielleicht finde ich sie ja auch durch einen Zufall. Crystal hat mich auch durch Zufall gefunden, als sie ein Praktikum in unserer Schule gemacht hat. Sie war damals schon auf der Highschool. Jetzt bin ich fast so alt wie sie damals. Vielleicht bin ich etwas jünger. Jetzt muss ich in ihre Rolle schlüpfen. Ich begebe mich heute Nachmittag einfach unter Leute und halte in Schule und Mensa die Augen offen.
Plötzlich landet Logans Baseball in meinem Müsli, die Milch spritzt aus der Schüssel in mein Gesicht und reißt mich aus meinen Gedanken. "LOGAN!", schreie ich meinen kleinen Bruder an. Mum lacht. Anstatt zu schimpfen lacht sie. Ich lasse mein Müsli, in dem ich die ganze Zeit sowieso nur herumgestochert habe, stehen und laufe nach oben, um mich umzuziehen. Meine Komode steht neben meinem Bett. Ich wühle in den Klamotten, um meine Lieblingshose zu finden. Als ich fertig bin schnappe ich mir meine Tasche und hechte zur Bushaltestelle. Ich schaffe es gerade noch in den Bus, bevor der Busfahrer die quietschende Tür hinter mir schließt. Ich blicke durch den Bus. Ganz hinten sitzt Emma. Sie winkt mir zu. Wie peinlich. Als ich mich neben sie setze knallt sie mir ihr Chemiebuch auf den Schoß. Ich lasse meinen Blick durch den Bus schweifen, während Emma redet wie ein Wasserfall. Woran erkennt man eine Winterkönigin? Wie soll ich sie finden, wenn ich das noch nicht einmal weiß? "Hallo!", schreit Emma mich an und fuchtelt mir mit ihrer Hand vor den Augen herum, "Wir werden heute mündlich abgefragt und das ist deine Chance in Chemie keine fünf zu bekommen." "Shit!", fluche ich. Das habe ich total vergessen. Ich schaue über die Formeln und merke, dass ich nichts kapiert habe. "Wir hatten zwei Wochen Zeit, um uns vorzubereiten", erinnert mich Emma, "Du hast das jetzt nicht ernsthaft vergessen!?" "Quatsch", versuche ich sie zu beruhigen.
Als wir in der Schule ankommen, treffen wir John, der auch gerade auf dem Weg ins Klassenzimmer ist. "Und? Gut gelernt?", fängt er jetzt auchnoch damit an. "Klar!", sagt Emma triumphierend. Ich starre nur auf die Formeln in Emmas Buch. John ist Klassenbester. Emma und er sind meine einzigen Freunde hier. Und obwohl sie meine besten Freunde sind, habe ich ihnen noch nie etwas von der Sache mit der Sommerkönigin erzählt. Sie hätten mich sowieso nur für dumm verkauft. Kurz später kommen wir in den Chemieraum. Letzte Stunde hat Mrs. Hilton uns noch ausdrücklich gesagt, dass wir die zwei Wochen zum Lernen verwenden sollen und mich dabei ganz scharf angesehen. Jetzt steht sie direkt vor mir und schaut mich mit diesem komischen Blick an, als wenn sie mich gleich fressen würde. Dann lacht sie mich an. Ich weiß nie, ob sie schlecht oder gut gelaunt ist. Einen Moment sieht es so aus, als wäre sie ein Monster und im nächsten Moment wirkt sie wie die netteste Lehrerin der Welt. "Amy!", ruft sie mich auf, als ich mich gerade hingesetzt habe, "Komm doch bitte nach vorne." Ihre Stimme klingt genervt, aber sie strahlt mich an als wäre Weihnachten. Ich gehe nach vorne. Ich wusste, dass sie mich aufrufen würde. Ich knibbele an meinen Fingernägeln. Das tue ich immer, wenn ich aufgeregt bin. Emma und John schauen mich erwartungsvoll an. Den Rest der Klasse interessiert es nicht wirklich, dass der Unterricht schon begonnen hat. Ich gehe weiter nach vorne. Am Fenster sitzt ein Rabe. Es ist kein gewöhnlicher Rabe. Ich weiß genau wer es ist. Er schaut mich an. Ich versuche ihn zu ignorieren und stelle mich ans Pult neben Mrs. Hilton. "Fangen wir an", sagt sie, "ich hoffe für dich, dass du gut gelernt hast." Mr. Shiver schaut zu mir herüber. Mrs. Hilton redet und redet. Ich versuche ihr zuzuhören, doch ich verstehe nicht genau was sie sagt. "Besorge mir die Winterkönigin!", höre ich Mr. Shivers Stimme. Das Messer blitzt noch aus meiner Jackentasche. Der Rabe starrt mich immer noch an. Jetzt kann ich Mrs. Hilton wieder verstehen. "Und?", fragt sie und schaut mich an. Ihr Blick bohrt sich in meinen Kopf. Schwarze Punkte leuchten vor meinen Augen auf. "Ich...", stammele ich. Die schwarzen Punkte werden immer größer. "Hast du doch nicht gelernt?", fragt sie und sieht mich mit einem breiten Grinsen an. Das Grinsen wird immer breiter und ihre Pupillen immer größer. Ihr Gesicht wird bleich. Ein schwarzer Umhang blitzt hinter ihr auf. Die Winter werden immer kälter. "Sag doch was Amy!" Besorgen Sie mir die neue Winterkönigin. Die alte ist gestorben. Ich bekomme Kopfschmerzen. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Ich sehe vor lauter Punkten gar nichts mehr. Meine Augen fallen zu. Kurz später höre ich ein Poltergeräusch. Ich will schauen was es war, aber ich kann meine Augen nicht öffnen. "Amy!", dröhnt es in meinen Ohren. Dann höre ich nichts außer einem schrillen piepen. Ich will schreien, aber es geht nicht.
Ich schlage meine Augen auf. Meine Beine liegen auf einem Stuhl und Mrs. Hilton und fast der ganze Rest der Klasse sind über mich gebeugt. Erst jetzt begreife ich, dass ich für das Poltergeräusch verantwortlich war, denn ich liege auf dem Boden. Jetzt schaut Mrs. Hilton mich nicht mehr eindringlich an. Sie wirkt jetzt eher besorgt. Ihre langen braunen Haare hat sie sich zu einem Zopf zusammengebunden. Hilton steht wie immer mit Edding geschrieben auf ihrem weißen Laborkittel. Ich mache den Mund auf, um etwas zu sagen, doch es kommt nichts heraus. "Setzt euch bitte alle wieder", sagt sie zur Klasse gewandt. Dann fragt sie mich: "Wie geht es dir, Amy?" Ich kann nichts sagen. Ich will auch nichts sagen. Ich will wissen, ob Mr. Shiver noch da ist. Also nehme ich die Füße vom Stuhl, setze mich auf den Boden. Ich halte die Luft an. Der Rabe am Fenster ist verschwunden. Erleichtert atme ich aus. "Mir geht's gut", sage ich schließlich und stelle mich wieder hin. "Die Abfrage verschiebe ich auf nächste Woche", sagt Mrs. Hilton ganz besorgt. "Simulant!", dröhnt es aus der Klasse, doch nach einem Bösen Blick von Mrs. Hilton verstummen alle wieder. John und Emma schauen mich entgeistert an.
"Was war das denn?", meint John als wir nach dem Unterricht im Treppenhaus stehen. "Ich weiß es ja selber nicht", antworte ich genervt. "Sah aber ziemlich echt aus", meint Emma. "Natürlich war das echt!", schreie ich sie an. "Jaja, ist ja gut", will sie mich beruhigen. Gemeinsam gehen wir in unser Klassenzimmer. Unsere Englischlehrerin Mrs. Gibson wartet schon auf uns. Als ich zu meinen Platz laufen will höre ich wie sie meinen Namen ruft. Dann kommt sie auf mich zugelaufen. "Mrs. Hilton hat mir von dem Vorfall im Chemieunterricht erzählt", sagt sie und sieht mich fragend an. Ihr Gesicht erinnert mich irgendwie immer an einen Mops. "Mir geht es gut", antworte ich so überzeugend wie möglich. "Gut, wenn du meinst", sagt sie schnippisch, so als hätte sie eine andere Antwort erwartet, dreht sich um und geht wieder nach vorne. Mit gerunzelter Stirn lasse ich mich auf meinen Stuhl sinken und denke darüber nach, was der Rabe am Fenster von mir wollte. Mr. Shiver kann mich auch kontrollieren, ohne mich zu verfolgen. Dieser Rabe hat mich total aus dem Konzept gebracht. Aber vielleicht war ja genau das seine Absicht gewesen.
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Aus Feuer und Eis
FantasyDie sich wiegen, neigen und schauern. Über mystischen Gräbern trauern. Sie schauern: ihre duftenden Seelen Zittern in immerwährendem Leide. Sie weinen: auf ihrem weißen Kleide Schimmern die Tränen wie Juwelen. (Edgar Allan Poe; Das ruhelose Tal) Am...